DARF ICH MITSPIELEN?
LITERATURWISSENSCHAFTEN UND COMPUTERSPIELE

ABSTRACT

Der Beitrag geht von der Frage aus, welches Interesse literatur- und kulturwissenschaftliche Fächer an der Analyse computergenerierter Fiktionen haben könnten. Dieser Frage werde ich mich mit der Interpretation zweier Computerspiele auf CD-ROM stellen: EVE: The Music and Art Adventure, Peter Gabriels Multimedia-Kunst-Projekt von 1996, und Tomb Raider, eines der weltweit populärsten Computerspiele, dessen bisherige drei Folgen zwischen 1996 und 1998 auf den Markt kamen. Ausgehend von meinem Fach, der US-amerikanischen Literaturgeschichte, schlage ich mögliche Interpretationsansätze vor, um mit fiktionalen Texten, die mit dem Computer programmiert wurden, zu arbeiten.

Im Vordergrund steht dabei die Frage der ästhetischen Körperkonzepte, die im Umgang mit diesen Texten vermittelt werden. Ich konzentriere mich auf Gender, die Geschlechterverhältnisse, und untersuche die Kontrollmechanismen und Widerstandspotentiale der digitalen Beispieltexte.

1. DIE FRAGE NACH KöRPERKONZEPTEN IN DIGITALEN TEXTEN

Der Artikel untersucht die Anschlußmöglichkeiten zeitgenössischer Theoriekonzepte, speziell auf den Gebieten der Diskursanalyse und der Gender-Forschung, an konkrete digitale Texte: Peter Gabriels EVE: The Music and Art Adventure[1] und den Verkaufsschlager Tomb Raider.[2] Wichtig sind mir in diesem Zusammenhang die Körperdiskurse, die zum Tragen kommen.[3] Meine Überlegungen gehen von Michel Foucaults Theorien zu Körpern, Diskursen und Macht aus, einem Zusammenhang, den Alec McHoul und Wendy Grace als »a certain ›art‹ of the human body« umschreiben.[4] Donald M. Lowe entwickelt in seinem Buch The Body in Late-Capitalist USA ein Konzept für diese Körper-›Kunst‹ der Gegenwart: Er nimmt im Spätkapitalismus die Betonung körperlicher Unterschiede ohne zugrundeliegende Identitäten wahr und entwickelt daraus die Theorie einer in westlichen Kulturen immer sichtbarer werdenden Pluralität sexueller Ökonomien, die zugleich subversiv und marktintensivierend wirkt.[5] Eine solche ›spielerische‹ Pluralität wird gerade für digitale Texte immer wieder postuliert.[6]

Angesichts der Verschiedenartigkeit digitaler Texte fällt es allerdings schwer, allgemeingültige Aussagen zu machen.[7] Es verwundert also nicht, daß immer mehr Stimmen laut werden, die Pauschalurteile über die neuen Medien relativieren.[8] Konkrete wissenschaftliche Analysen digitaler Texte liegen allerdings bisher kaum vor.[9] Die Verunsicherung auf seiten traditioneller Fächer stammt nicht nur daher, daß für die Beschäftigung mit den neuen Medien neben der Kompetenz für inhaltliche, formale und im engeren Sinn künstlerische Belange auch ein Sinn für die technischen Aspekte nötig scheint. Fragwürdig ist auch, inwieweit traditionelle Fragestellungen für eine Analyse digitaler Texte überhaupt relevant sind, da der Cyberspace vielfach als ein völlig unbekannter, unerschlossener Raum ohne Geschichte und ohne alle Gesetze gilt.[10]

In diesem Zusammenhang ist nicht geklärt, welche Fächer sich für welche Texte zuständig fühlen dürfen. Meiner Meinung nach können digitale Medien ebensowenig wie Druckerzeugnisse oder Filme der Gegenstand nur eines Fachgebietes sein. Ich möchte mich bei der Auswahl meiner Beispiele und Fragestellungen darauf berufen, daß sich die Literaturwissenschaften traditionell mit der ästhetischen beziehungsweise gesellschaftlichen Funktion und Wirkung fiktionaler Texte auseinandersetzen, also mit Aspekten, die andere Fächer, etwa die Kommunikationswissenschaften, unberücksichtigt lassen.

Literarisch orientierte Fächer haben sich in Verbindung mit den Kulturwissenschaften eine Reihe von Analysewerkzeugen erarbeitet, die auch bei der Erforschung bestimmter Aspekte digitaler Texte hilfreich sein können. Gerade in Verbindung mit zeitgenössischen Theorien zur Postmoderne, aus den Gender Studies oder den Postcolonial Studies liegt hier ein wissenschaftliches Instrumetarium vor, das auch für die Analyse digitaler Texte von Nutzen sein kann. Besonders in Verbindung mit Körperkonzepten scheint mir die Frage nach dem historischen Zusammenhang zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Bildsprachen wichtig, denn er macht klar, daß digitale Texte sehr wohl eine (ästhetische) Geschichte haben und ihrerseits Geschichte produzieren.

Umgekehrt ist das elektronische Umfeld für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler interessant, weil es hergebrachte Vorstellungen der Fächer in Frage stellt, wie Marie-Laure Ryan in ihrer Einführung zu Cyberspace Textuality hervorhebt:

[I]t problematizes familiar notions, and it challenges the limit of language. [...] Long taken for granted, the material support of the text and its expressive potential have now become objects of active enquiry, both in the theoretical and the artistic mode. The territory of the written has not only been subdivided – its very identity has become problematic [...].[11]

Zum einen bieten digitale Texte ein Betätigungsfeld, auf dem sich die geschriebene und gesprochene Sprache gegen das stehende und bewegte Bild, Musik und Ton durchsetzen muß und das dazu herausfordert, die eigenen Abgrenzungen zu nicht-sprachbasierten Medien zu überprüfen. Zum anderen erlaubt die Beschäftigung mit dem elektronischen Multimedium, herkömmliche Prämissen in bezug auf Fiktionalität und Ästhetik zu überdenken und weiterzuführen. Vor allem die Aspekte der Referentialität beziehungsweise der Virtualität können in diesem Zusammenhang aufs neue verhandelt werden.

Paul Zelevansky betont außerdem, daß sich Rezeptionsprozesse nicht nur im Verhältnis zu den digitalen Medien verändern, sondern daß auch sogenannte ›alte‹ Medien wie Drucktexte oder Popmusik – oft im direkten Kontakt mit digitalen Verfahren – ihre Form ändern und traditionelle Lesekompetenzen herausfordern.[12] Zelevansky beendet seinen Artikel mit einer Bemerkung zur Wirkung solcher Texte: »In the world of sampling and processed attention, creative misunderstanding is the leading edge of creative S.E.L.F. understanding« (S. 157). Die textuellen Veränderungen basieren auf und führen zu neuen Rezeptionskompetenzen, wodurch eine neuartige Ungleichzeitigkeit und Ungleichheit der Leseweisen unterstützt wird: Rezeptionskompetenzen unterscheiden sich je nach Alter, Bildungsstand und kultureller (ethnischer, nationaler, gruppenspezifischer) Sozialisation auf neue Weise.

Unter Berücksichtigung solcher allgemeinen diskursiven Veränderungen warnen viele Theoretikerinnen und Theoretiker davor, digitale Texte und Umgebungen getrennt von den traditionellen Medien zu behandeln. Vicki Kirby etwa macht im Rahmen einer Kritik an ›körperlosen‹ und ›posthumanen‹ Szenarien der Gegenwart klar, daß der computergenerierte, virtuelle Raum nur ein Szenario von vielen ist, in denen heute geschichts- und ›schwerelose‹ Identitäten konzipiert werden:

The geography of cyberspace is not the only ›place‹ whose legend acknowledges such things as the dispersal of the subject, the material efficacy of representation, the problematic nature of the body, the critique of production as causality, and the critique of Cartesian space as a composite of separable coordinates. Despite these attempts to displace the felt belief that the nature of quotidian existence is self-evident and uncomplicated, however, the emerging literature on cyberspace seems to instantiate it all the more robustly.[13]

Kirby betont im Gegensatz zu Texten, die den Cyberspace als eine ganz neue, körperlose Umgebung feiern, daß sich hergebrachte Körperkonzepte auch in die Texte der digitalen Medien einschreiben. Fragen nach Körperkonzepten in digitalen Texten erweisen sich somit für ›alte‹ und neue Medien gleichermaßen als wichtig. In diesem Sinne widmet sich mein Beitrag zwei fiktionalen Texten auf Read Only-Speichermedien, und zwar Computerspielen auf CD-ROM.[14]

»Electronic media are not ›immaterial‹«, schreibt Johanna Drucker in The Self-Conscious Codex: Artists' Books and Electronic Media.[15] Zu den materiellen Eigenschaften eines Spiels auf dem Computer gehören Befehlseingaben ebenso wie Farbintensität, Tonqualität, Art der Ausgabe von Tastatur- oder Mausbefehlen auf dem Bildschirm oder durch den Lautsprecher, Bewegungsabläufe am Keyboard beziehungsweise mit der Maus und auf dem Bildschirm, Bild›ausschnitt‹, also die Grenzen des (Re-)Präsentationsfeldes, Manipulations- und Kombinationsmöglichkeiten einzelner Textteile, das Timing, das Verhältnis von prozessualer Abfolge und statischer Form und vieles mehr. Die Materialität eines Computerspiels beschränkt sich nicht auf die Aspekte, die man anfassen kann, sondern hat vor allem mit der Wirkung von Bild, Ton und Schrift zu tun.

Computerspiele setzen bestimmte Strategien ein, um Illusions- oder Realitätseffekte zu erzielen, die sich von denen eines Drucktextes oder Filmes unterscheiden. Das Interface, die Schnittstelle ›zwischen‹ Benutzerin und Benutzer und Maschine, die Hard- und Software, die den ›Zugang‹ zu digitalen Texten ermöglicht, steht bei Überlegungen zu Realitätseffekten im Vordergrund. Die Beispieltexte werden zeigen, daß das Konzept der Schnittstelle als einer ›Schwelle‹ zwischen zwei getrennten Welten, dem ›realen‹ Raum körperlicher Erfahrung und dem ›virtuellen‹, nicht-körperlichen Datenraum, an sich problematisch ist. Computernutzerinnen und Computernutzer treten nicht in einen körperfreien Raum ein. Vielmehr wird es im folgenden um Prozesse des Kennenlernens und der Aneignung von Techniken gehen, die eine solche konzeptionelle Trennung unmöglich erscheinen läßt.

2. SPIEL MIT DEM ICH: EVE: THE MUSIC AND ART ADVENTURE

Der Sänger und Multimedia-Künstler Peter Gabriel brachte 1996 die CD-ROM EVE: The Music and Art Adventure heraus, die nicht nur die verschiedensten Kunstformen kreativ einsetzt, sondern auch formal eine Mischform aus Abenteuerspiel, Drucktext, Kunst- und Musiksampler-CD sowie Theoriesammlung zur zeitgenössischen Körperdiskussion darstellt. Gabriel meditiert auf dieser CD-ROM über Kunst, Körper und neue Medien und setzt die digitalen Möglichkeiten bewußt und oft ostentativ ins Bild. Gabriel hatte bereits mit verschiedenen Medien experimentiert, bevor er EVE herausbrachte. Seine multimediale Auseinandersetzung mit Körperkonzepten und Geschlechterbeziehungen schließt an seine Musikproduktionen[16], das MSP (Motion Simulator Pod) Mind Benders[17] und eine erste CD-ROM, XPLORA 1, an und organisiert sich als ein Gemeinschaftsprojekt, eine multikulturell ausgerichtete Theorie- und Kunstpraxis.

Für die Gesamtgestaltung von EVE zeichnet eine Person verantwortlich, Peter Gabriel – verglichen mit kommerziellen Spielen, bei denen eine Produktionsfirma die Autorinstanz und das Copyright innehat, ist dies ungewöhnlich und deutet darauf hin, daß EVE eher in der Tradition der sogenannten Artists' Books steht.[18] Die CD-ROM wird denn auch durch ein grafisch sehr aufwendig aufbereitetes Begleitheft ergänzt, in dem sich viele Aussagen der CD-ROM noch einmal schriftlich finden, das aber auch Hintergrundinformationen zu und Stellungnahmen von den Künstlerinnen und Künstlern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern enthält, die an der Produktion mitwirkten. Außerdem liefert es eine Bibliographie von Texten aller Beteiligten. Gabriel setzt sich hier als der Künstler in Szene, der die anderen zusammen-, nicht anführt. Er tritt als der Koordinator dieses Gemeinschaftsprojektes auf, nimmt für sich aber gerade im Begleitheft die steuernde Autorfunktion[19] und das Copyright in Anspruch.

Technisch forderte die CD-ROM 1996 dem Computer einiges ab. EVE läuft unter Windows 95 ab einem 486er-Prozessor mit 66 MHz, benötigt nach Möglichkeit 16 MB Arbeitsspeicher, mindestens 10 MB auf der Festplatte und ein schnelles CD-ROM-Laufwerk. Neben einer guten Grafikkarte ist vor allem die Soundanlage von Bedeutung. Um die anspruchsvolle Klangwelt genießen zu können, ist es wichtig, eine angemessene Tonausstattung zu besitzen: Woofer-Technologie beziehungsweise Anschluß an eine Stereoanlage muß gewährleistet sein. Die CD-ROM richtete sich demnach an Käuferinnen und Käufer, die schon damals eine leistungsstarke Hardware-Ausstattung zur Verfügung hatten. Dies ist ein wichtiger Aspekt, da computergenerierte Texte sich zwar beliebig oft reproduzieren lassen,[20] aber nicht alle Nutzerinnen und Nutzer gleichermaßen Zugang zu diesen virtuellen Welten haben: Der Besitz der Hard- und Software entscheidet darüber, ob jemand sich Zutritt verschaffen kann.[21]

Die Raumkonzeption des Spiels sieht verschiedene Räume vor, die sich den Spielerinnen und Spielern auf verschiedenen Spielstufen öffnen und jeweils aufeinander abgestimmt sind. Es handelt sich um ein komplexes Zusammenspiel von ineinander verschachtelten Außen- und Innenräumen; zum Beispiel existiert auf jeder Spielebene eine ›Galerie‹, in der die Spielenden direkt in Kunstwerke ›einsteigen‹ und sie ›von innen‹ verändern können, und ein ›Klangraum‹, in dem grafische Animationen und Musik manipuliert werden können. Diese Umgebungen ähneln strukturell einer Einzelattraktion bei einem Jahrmarkt.

Die Übergänge von Außen- zu Innenraum sind abrupt, es werden dabei keine illusionsfördernden Verfahren eingesetzt – so ›betritt‹ man ein Haus, indem man darauf klickt, ohne eine Klinke oder Klingel zu betätigen und aus einer beliebigen Entfernung. Man interagiert nicht mit einem zusammenhängenden, hierarchisch strukturierten Gemeinwesen, sondern mit einer Spielewelt, in der die kuriosesten räumlichen Verhältnisse, Zeitebenen, Menschen, Dinge und Kunstwerke wie zufällig, aber offensichtlich einem ästhetischen Prinzip folgend, aneinanderstoßen.

Die Ästhetik läßt sich architektonisch und kunstgeschichtlich an europäischen, postmodernen und teilweise multinationalen Mustern festmachen. So existiert etwa das Zitat einer englischen gotischen Kirche mit Friedhof neben dem eines barocken Gartens; ein klassizistischer Rundbau steht in Verbindung zu einer Gartenanlage im englischen Stil; Fabrikarchitektur des 20. Jahrhunderts löst eine zeitgenössische künstlerische Garteninstallation ab, ein Häuschen aus Reispapierwänden findet sich inmitten eines märchenhaften Kunstgartens. Klar als Kunst-Räume gekennzeichnete, völlig phantastische Umgebungen liegen Seite an Seite von photorealistisch dargestellten Künstlerateliers.

Die Spielenden ›wandern‹ durch diese verschiedenen ›Räume‹, die über eine Hypertextstruktur miteinander verknüpft sind. Hypertexte sind nicht linear aufgebaut, sondern basieren auf einem System von Links, Verbindungen zwischen verschiedenen Nodes (Knotenpunkte, an denen Textfragmente aufeinanderstoßen und sich die Handlung beziehungsweise der Textverlauf verzweigt) von unterschiedlicher Tiefe, bilden also komplexe und dynamische netzartige Strukturen. In den parallelen Räumen dieser computergenerierten, virtuellen[22] Welten finden Ereignisse statt, die das Verhältnis zwischen den einzelnen Umgebungen laufend verändern: Die Räume können ebenso wie die in ihnen stattfindenden Ereignisse wieder aufgerufen und weiter manipuliert werden, es kann aber auch geschehen, daß den Anwenderinnen und Anwendern der Zugang verweigert wird, weil sie an anderer Stelle einen Spielschritt übersprungen haben.

Computergenerierte Hypertexte sind problematische Textformen, da sie zum einen nicht eindeutig definiert sind;[23] zum anderen macht die netzartige, wuchernde Form den Akt des ›Lesens‹ als einen Prozeß bewußt, der sich weder assoziativ noch zeitlich oder räumlich begrenzen läßt. Das ist an sich nicht neu, existiert die Netzmetapher doch bereits in der Sprachtheorie;[24] allerdings wird sie im Zusammenhang mit den digitalen Medien aufs neue diskutiert, so daß die Rhetorik der Entgrenzung und der daraus resultierenden angeblichen Entkörperlichung als Wesensmerkmal des Digitalen gilt. Wie verhält sich eine CD-ROM wie EVE zu dieser Behauptung?

In EVE wird kein Avatar[25] eingesetzt. Die Spielerinnen und Spieler bewegen vielmehr den Cursor über den Bildschirm, der je nach Situation seine Gestalt wechselt. Diese Perspektive lädt nicht zur Identifikation mit einer Figur oder einem Standpunkt ein, sondern führt dazu, daß sich die Benutzerinnen und Benutzer je nach Situation ganz verschiedenen Positionen annähern. Einerseits vermittelt diese Perspektivierung den Eindruck von Kontrolle über (nicht dem Eintreten in) Räume, also einen eher instrumentellen Zugang. Andererseits liegt die Verantwortung für das ›Wahr‹nehmen und Einordnen dieser Räume ganz offensichtlich bei den Spielenden.

Nach Aufrufen des Spieles von der CD-ROM leuchtet der Schriftzug »EVE« auf dem Bildschirm auf. Bei Klicken auf die Schrift erscheint auf dem Monitor eine brodelnde Schlammoberfläche; zugleich mit dem Auftauchen der Schlammblasen ertönen sphärische Klänge. Zu den Spielewelten gelangt man durch Anklicken der mittleren Blase. Geheimnisvolle Töne begleiten auch den Aufbau des nächsten Bildes: Grafische Farbflächen in Form verschiedener durchsichtiger, zuckender Einzeller laden zum Anklicken ein. Zu diesem Ausgangsscreen müssen die Spielenden immer wieder zurückkehren, um die Credits aufzurufen, den Spielstand zu sichern, gesicherte Spielstände wieder herzuholen oder das Spiel zu verlassen. Der Bildschirm ist nach einem Kunstwerk von Helen Chatwick gestaltet, das, wie man den »hints«, den (im Dateiverzeichnis der CD-ROM versteckten) Ratschlägen für das richtige Vorgehen, entnehmen kann, Gabriel auf die bildende Künstlerin aufmerksam machte, so daß sie zu einer wichtigen Mitgestalterin der Spielräume wurde.

Beim Klicken auf »begin« bleibt nur die mittlere Zelle stehen, die aussieht wie eine Eizelle, und der Cursor wird zur Samenzelle. Das eigentliche Spiel beginnt erst, wenn es gelingt, das Spermium in die Eizelle eindringen zu lassen, was einige Anläufe und viel Geschicklichkeit erfordert. Und das ›eigentliche‹ Spiel beginnt im Grunde immer noch nicht. Der Anfang wird immer weiter hinausgeschoben, die Rahmentexte vervielfältigen sich. Bei Verschmelzung der beiden Zellen wird eine Zellteilung ausgelöst, die sich in einen saturnähnlichen Planeten verwandelt und das nächste Bild preisgibt, eine grüne, an manchen Stellen sonnendurchflutete Waldlandschaft.

Fängt man nun mit dem Cursor eine schwebende Lichtblase ein, wird der durch den Monitor begrenzte, flache Bildausschnitt zu einem ›Raum‹: Man kann sich mit Hilfe des Cursor jetzt dem Landschaftsprospekt entlang einmal um 360 Grad rundherum drehen, denn je nach Bewegung folgen verschiedene Bildausschnitte einander dynamisch, und das Ende des Bildes schließt an den Anfang an. Jede weitere ›Welt‹ erzielt auf diese Weise den Effekt eines zusammenhängenden theatralen Bühnenbildes und einen räumlichen Eindruck.

In dieser ersten Welt, die quasi als weiterer – sechster – Rahmen für alle anderen Welten fungiert, kann man eine geheimnisvolle Hütte ›betreten‹: Klickt man mit dem Cursor auf die Tür, folgt ein Schnitt, und als nächstes erscheint das Innere der Hütte auf dem Bildschirm. Jetzt läuft eine Videosequenz ab: Es erscheint eine Art Luftspiegelung oder Hologramm, aus der ein Koffer fällt. Ihm entsteigen allerlei seltsame Gestalten, die, wie sich später herausstellt, Teile der Spielewelten sind, etwa ein Gartenzwerg, Steingötzen, Papierräder und Putten mit Flügeln. Wieder schwebt eine mehrfach geteilte Eizelle herbei, deren Windungen sich entwirren und zwei nackte Gestalten preisgeben, eine Frau und einen Mann.

Eine Frauen- und eine Männergestalt werden die Spielenden durch den weiteren Verlauf begleiten, optische Hinweise auf Verfahrensweisen geben und sie von einer Welt in die nächste führen. Die Frau, in den »hints« »Eve« genannt, ist meist nackt. Die Männergestalt verändert Hautfarbe und Aussehen im Laufe des Spieles, erinnert aber oft an Peter Gabriel. Die Gender-Positionen sind in EVE optisch klar gekennzeichnet, verlieren aber im Kontext mit anderen Bestandteilen diese Eindeutigkeit.

Sind alle ›holografischen‹ Bilder in der Hütte verschwunden, bleibt eine Öffnung in der Wand, die beim Anklicken die erste größere Spielwelt eröffnet, »Mud« genannt. Unter einem verhangenen Himmel liegt eine verlassene, wüste, schlammige Landschaft, aus der ein verfallenes, halb im Schlamm versunkenes Gemäuer ragt, der sogenannte »Human Relations Room«, der Kommunikationsraum.

Betritt eine Spielerin oder ein Spieler dieses Gebäude, kann sie/er verschiedene Schaltflächen rechts und links des gezeichneten Raumes anklicken, die mit Zahlen bezeichnet sind: Auf einer weißen ›Projektionsfläche‹ erscheinen Videos von »people in and out of love«, unbekannten Frauen und Männern, die über ihre persönliche Erfahrungen von Liebe und Eifersucht, Abhängigkeit und Glück zwischen Partnerinnen und Partnern sprechen.

Doch auch im Raum selbst können sich die Spielenden mittels Cursor bewegen: Ein nackter Schwarzer, der beim ›Betreten‹ des Zimmers auf dem Boden kauert, steht erst auf, wenn man ihn mit dem Cursor berührt. Er hält ein Licht in den Händen. Gibt man ihm den bereitstehenden Koffer in die Hand, verwandelt er sich in einen Weißen in Hut und Mantel, der den Raum mit dem Koffer verläßt. Dieser weiße Mann kreuzt von nun an den Weg der Spielerinnen und Spieler immer wieder.

Zu diesem Zeitpunkt deutet sich bereits an, daß EVE eine Bewegung in Gang setzt, die entwicklungsgeschichtlich bestimmt ist. Die Entwicklung des menschlichen Körpers aus Ei- und Samenzelle stellt den erzählerischen ›Keim‹ dar, aus dem das Spiel erwächst, das zunächst menschheitsgeschichtlich strukturiert zu sein scheint. Eine Gegenbewegung zu dieser Entwicklungslinie erzeugt der Aufbau der Welten: Sie sind ineinander verschachtelt wie Holzpuppen, rahmen einander ein, entfernen sich voneinander. Das letzte Bild führt dann zur ersten Welt zurück, von der aus alle Szenen noch einmal besucht werden können.

Auf der Ebene des Spielverlaufs fehlt die stabilisierende Konstante eines narrativen Plot, etwa einer Beziehungsgeschichte. Ziel des Spieles ist es, verschiedene ›Welten‹ – Landschaften, die Veränderungen in der Zeit unterliegen – zu durchqueren, die Figuren kennenzulernen, die man unterwegs trifft, und an den Veränderungen von Landschaft und Beziehungsgeflechten aktiv teilzunehmen. Wechselt der Cursor seine Farbe, wenn man ihn über eine bestimmte Stelle am Bildschirm zieht, gibt es etwas zu tun: Es sind neue Räume zu erforschen, Bilder und Töne zu erleben und zusammenzusetzen, eine Aussage zu hören und Rätsel zu lösen. Sind in einer Welt genug Aufgaben bewältigt, öffnet sich eine neue.

Innerhalb jeder Welt können bestimmte Gebäude und Gegenstände in einer Landschaft beim Anklicken den Durchgang in eine andere, parallele Landschaft ermöglichen. Dinge können in EVE aber auch Geräusche machen, ein Musikstück spielen oder ein Bild freigeben. Manche Gegenstände lassen sich verändern, mit einer Melodie unterlegen oder an einen anderen Platz bewegen. Es tauchen Objekte aus dem Nichts auf, andere verschwinden, wenn man sie anklickt. Manche Räume sollten Spielende mehrmals betreten, da sie sich verändern und Spielmöglichkeiten offerieren, die sich beim letzten Besuch noch nicht boten.

Es existieren insgesamt fünf Welten: »Mud«, »The Garden«, »Profit«, »Paradise«; die fünfte Welt heißt »Ruin« und ist, wie der Name schon sagt, eine dystopische Welt. Jede Landschaft hat ihr eigenes musikalisches Thema, einen Song von Peter Gabriel, und ist von einem Künstler oder einer Künstlerin optisch gestaltet worden. Jede Welt hat auch ihre eigenen Expertinnen und Experten und einen Themenschwerpunkt. Es gilt, das Paradies zu erreichen, ohne ins Verderben zu rennen. Der christliche Kontext des Pardieses wird auf verschiedenen Ebenen durch andere durchbrochen; zum einen vermitteln die Gartenbilder sofort den Eindruck von Künstlichkeit und Kunst, zumal die Künstlerinnen und Künstler oft Installationen aus ›natürlichen‹ Materialien anfertigen. Zum anderen geht es in vielen Texten um andere, etwa afrikanische oder buddhistische Religionen oder um spirituelle Haltungen, die den anfänglich klar scheinenden biologischen und christlichen Körperverweisen zuwiderlaufen.

Die Raumanordnung innerhalb der einzelnen Welten ist zum Teil unübersichtlich gestaltet. Zwar existiert eine hierarchische Ordnung, da jede übergeordnete Welt einzelne Gebäude und Areale besitzt, die von ihr aus zu erreichen sind. Aber auf der untergeordneten Ebene geht die Übersicht zumindest anfänglich immer wieder verloren. Hier gleicht die Anordnung der Räume einem Irrgarten; das Spiel mit der Ähnlichkeit der optischen Verweise, bei deren Anklicken man in unterschiedliche Räume gelangt, ist verwirrend.

Zwischen den Hauptwelten gibt es einige strukturelle Ähnlichkeiten – Gebäude aus einer Welt tauchen in den nächsten auch wieder auf, wiewohl ihre Beschaffenheit sich teilweise verändert, alle Welten sind sehr komplex strukturiert –, aber das Szenario wird von Welt zu Welt immer komplexer: Es wachsen mehr und mehr Pflanzen, neue Gebäude erscheinen, ständig tauchen zusätzliche Figuren auf, der Himmel wechselt seine Beschaffenheit. Zuerst gibt es nur eine schlammige Einöde ohne alle Pflanzen, dann zeigen die Spielelandschaften zunehmend Bewuchs: Flechten und Moose färben den Schlamm grünlich, machen einer Graslandschaft Platz. Die Landschaften zeigen zunehmend Spuren von Kultivation, wodurch sie immer enger mit den Gebäuden in Zusammenhang zu stehen scheinen: Rodung, Ackerbau, Zäune, Wassergräben, angelegte Wege, immer mehr menschliche Behausungen. Gleichzeitig wird das Wetter immer besser; während die Stimmung zu Beginn des Spieles trüb und verhangen ist, klaren die Wolken langsam auf, und blauer Himmel kommt zum Vorschein. Technische Geräte tauchen auf. Immer mehr Spezialistinnen und Spezialisten und Künstlerinnen und Künstler kommentieren die thematischen Schwerpunkte der einzelnen Welten.

Alle bildenden Künstlerinnen und Künstler arbeiten mit ›natürlichen‹ Materialien: Die Japanerin Yakoi Kusama (»Mud«) setzt sowohl Blumen als auch Tiere, Bauwerke und Gegenstände des Alltagslebens wie Gartenzwerge ins Bild. Helen Chadwick arrangiert Blüten, Früchte, Pelze, Gräser, Blätter, Federn und Objekte mit den verschiedensten Texturen (Schnee, Brei, Schaum) zu farbigen Tableaux und geometrischen Formen, die auch als Abbildung noch zum Berühren einladen (»The Garden«). Die Installationen von Cathy de Monchaux (»Profit«) sind aus metallenen Maschinenteilen – etwa aus Schrauben, Kugeln aus Kugellagern, Metallbeschlägen, Messingscharnieren – und Naturmaterialien zusammengesetzt; es gibt Lederbänder, Fäden, die zu Netzen gesponnen sind, Samt, Holzrahmen sowie Papierrollen. Manchmal enthalten die Objekte versteckte Sätze wie »Wise men don't jump« oder »Once upon a fuck – once upon a Duchamp – once upon a lifetime«. Nils Udo (»Art and Nature«) baut bewegliche Strukturen wie Schiffchen, Bögen und Tunnels, Brücken oder Dämme aus Naturmaterialien wie Ästen, Gräsern, Blättern, Holzstücken oder Früchten und bezieht oft Feuer, Wind oder Wasser als Antriebskräfte in diese dynamischen Installationen ein.

Auf die naturgetreue Darstellung der Kunstwerke wurde viel Wert gelegt – vor allem die Texturen der Installationen kommen in der photogetreuen Wiedergabe zur Geltung. Da die Spielenden selbst ›Hand anlegen‹ und die abgebildeten Installationen manipulieren können, entsteht ein sehr lebhafter Eindruck der taktilen und farblichen Qualität und der Dynamik des Aufbaus. Peter Gabriel hat jeder Welt eine Melodie zugedacht, die die Anwenderinnen und Anwender selbst in Verbindung mit animierten Grafiken in verschiedene Stimmen zerlegen und wieder neu zusammensetzen können. Man lernt das Motiv und die einzelnen Bestandteile jedes Musikstückes kennen, indem man es auseinandernimmt und wieder neu zusammensetzt. Es läßt sich testen, wie sich der Eindruck der Töne in Verbindung mit verschiedenen Grafiken verändert. Der Synergie-Effekt ist enorm: Statische Anordnungen bekommen durch die Manipulation der Einzelteile und das Unterlegen mit Musik eine dynamische Qualität, die Farbigkeit beweglicher Installationen verändert sich in der Bewegung durch das Einsetzen von Licht- und Schatteneffekten.

Es handelt sich bei den Spielräumen um eine Art kontrollierter künstlerischer ›Versuchsanordnungen‹. Ohne wie im Museum das Schrillen einer Alarmanlage befürchten zu müssen, können die Anwenderinnen und Anwender mit den Objekten interagieren, was an wirklichen Ausstellungsorten verboten wäre. Außerdem handelt es sich bei den meisten Installationen um Abbildungen von Naturmaterialien, die in Wirklichkeit verwelken und verderben – ein Aspekt, der auch auf der CD-ROM noch mitschwingt, wo die Objekte frisch und strahlend bleiben, aber im Gegensatz zur Darstellung in einem Photoband manipuliert werden können.

Ein weiterer Vorteil der CD-ROM sind Videosequenzen, welche die Künstlerinnen und Künstler bei der Arbeit zeigen und damit den Blick für die Konstruktionsprozesse schärfen. Ähnlich ist es mit den Aussagen von Spezialistinnen und Speazialisten und Laien, die in manchen Räumen zu hören sind. Videos der Sprecherinnen und Sprecher laufen ab, die meist in eine architektonische Struktur eingefügt sind und Gruppen von Männern und Frauen metonymisch buchstäblich ›aneinanderstoßen‹ lassen. Künstlerinnen und Künstler, Expertinnen und Experten und Laien erhalten außerdem Raum im Begleitheft, um sich auch schriftlich zusammenhängender und teilweise weiträumiger darzustellen.

Unter den Expertinnen und Experten ist die Schriftstellerin Kathy Acker, die sich zu Lebzeiten mit ästhetischen, sexuellen und gesellschaftlichen Grenzsituationen des Körperlichen auseinandersetzte, die Performancekünstlerin Orlan, die ihren Körper im Laufe der vergangenen Jahre den verschiedensten ›Schönheits‹operationen unterzogen hat, um ihre Züge wie die Collage aus verschiedenen berühmten Portraits erscheinen zu lassen, der Sozialanthropologe Christopher Davis, die Gemeinschaftsformen und Sexualpraktiken europäischer und afrikanischer Völker erforscht, der Musiktherapeut Nigel Harley, der Priester Selwyn Smith, der Genetiker Steve Jones, der Zoologe Dave Clarke und viele andere.

Die Schlußsequenz ist ein animiertes Video, das man nicht beeinflussen kann: eine lange ›Kamerafahrt‹ an einem Baumstamm entlang bis zur Krone hinauf. Sobald der Cursor wieder in seiner üblichen Form auftaucht, kann man mit ihm auf die Sonne klicken und gelangt zurück in die Hütte der rahmenden Welt, in der wie zu Anfang des Spieles ein Hologramm auftaucht. Bei Anklicken erscheint der »Sector Plan« oder erscheinen die »Credits« in Form eines Buches. Durch die Pläne können sich die Spielenden Seite für Seite klicken und Welt um Welt, Bild um Bild noch einmal in die einzelnen Spielteile einsteigen, um alles erneut Revue passieren zu lassen und eventuell fehlende Lösungen zu ergänzen.

Peter Gabriel schreibt in der Broschüre, die dem Spiel beiliegt:

Interactive media has its limitations, but you can use it to provide a sense of journey and atmosphere. It can be as rich and alive as a marketplace – full of different colours, adventures, and influences. [...] Multimedia is a wonderful place for investigating art as a tool-kit and that's the direction I want to see things go (S. 7).

Die Zusammenstellung und Selbstreflexivität der künstlerischen und theoretischen Texte macht EVE zu einer Spielwiese für Dekonstruktivistinnen und Dekonstruktivisten. Das Spiel mit den Eigenschaften verschiedener Medien, dem Auflösen von Genregrenzen und den Grenzziehungen zwischen Kultur und Natur, das Zitieren von Stilrichtungen, von Konventionen in Kunst und Theorie, das Vermischen von Kreativität und Rezeption, von Form und Inhalt könnten einem Lehrbuch der Postmoderne entnommen sein. Die Anordnung der Welten, Räume und Figuren folgt denn auch den neuen formalen Prinzipien zeitgenössischer Texte, die Paul Zelevansky unter die Überschriften »Stimulation«, »Entropy«, »Legibility« und »Fr-ag-men-ta-tion« faßt.[26]

Die Spezialistinnen und Spezialisten setzen sich alle mit den kulturellen Inszenierungen und Grenzen des Körperlichen auseinander. Körperidentität ist ein zentrales Thema der CD-ROM, doch wie Gabriel bereits in seiner Einführung zum Begleitheft andeutet, geht es in erster Linie auch um ein körperliches Erleben des Textes selbst. Das heißt, die Räume, in denen sich die Spielerinnen und Spieler ›bewegen‹, geben die metaphorische Struktur für das Nachdenken über Körperkonzepte vor.

Diese Raummetapher mit den unklaren kategorialen und hierarchischen Grenzen, den Anhäufungen von Informationen, den vielfach besetzten Bedeutungen und den unendlichen Wiederholungsmöglichkeiten stellt eine verwirrende und faszinierende Umgebung her. Sie erinnert an Heterotopien – nach Michel Foucaults Monographie Die Ordnung der Dinge an Räume, in denen Bedeutung und Einheit des Subjekts in der Sprache zersetzt werden. Foucault schreibt:

Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum, sie öffnen Städte mit weiten Avenuen, wohlbepflanzte Gärten, leicht zugängliche Länder, selbst wenn ihr Zugang schimärisch ist. Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ›Syntax‹ zerstören, und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen [...] ›zusammenhalten‹ läßt.[27]

EVE bindet Körperdiskurse aller Art in Heterotopien ein: Künstlerische und wissenschaftliche Abbildungen von Tier- und Menschenkörpern, Aussagen über die Beschaffenheit von und Bezüge zwischen Körpern, manipulierbare Maschinenmenschen und -tiere, Körper in mythischen Umgebungen und in den verschiedensten architektonischen Formierungen. Teils in der Kunst, teils in den Expertinnen- und Expertenaussagen werden Bereiche wie hetero- und homosexuelle Beziehungen thematisiert, Gender-Formationen und sexuelle Praktiken in verschiedenen Kulturen und Religionen verglichen, Ehe und eheähnliche Partnerschaften diskutiert, das Verhältnis zwischen Paaren und Gemeinschaften, zwischen Sexualität und sozialer Beziehung, Spiritualität und Sexualität, verbaler und nonverbaler Kommunikation, Kontrollverlust und Unabhängigkeit und viele andere Themen werden teilweise äußerst kontrovers verhandelt oder dargestellt.

Der Verlauf des Spieles folgt keiner linearen, evolutionär ausgerichteten Logik. Vielmehr gerät man unterwegs eventuell in eine negative, abgewirtschaftete Umgebung. Diese ›industrielle Welt‹ ist ein erschreckendes Szenario: Leitungsrohre durchziehen die gesamte Landschaft, Rauchschwaden steigen aus Industriekomplexen auf, gegen den dampfverhangenen Horizont lassen sich riesige Fördertürme, Fabrik- und Tankanlagen, Industriekräne und Schornsteine wahrnehmen. Ein Schild mit der Aufschrift »Radiation. Keep away« im Vordergrund läßt ahnen, daß die Umgebung verseucht ist. Aus zwei Rohren fließen nicht identifizierbare Flüssigkeiten in ein Wasserloch, in dem Abfall liegt, und versickern im Erdreich. Unterlegt sind Fließgeräusche, und es ertönen dumpfe Maschinenlaute. Gebäude, die im Lauf des Spiels in immer besserem Zustand erschienen, sind in dieser Welt halb verfallen. Betritt man sie, sehen sie ›innen‹ zwar immer noch aus wie vorher, was jedoch nur die Schockwirkung bei der Rückkehr in die zerstörte Außenwelt erhöht. Die Inszenierung läßt vermuten, daß traditionelle Schwerindustrien und atomare Technologien die Ursache dieser entropischen Welt sind, aus der man aber nach der Lösung einiger Aufgaben wieder in die Welt zurückkehrt, aus der man gekommen ist.

Wie situieren sich Körperdarstellungen in solch disparaten Welten? Verschiedenste Körperentwürfe existieren in EVE nebeneinander, Geschlechtsbeziehungen, Hautfarben und Ethnizitäten werden spielerisch gewechselt. In EVE lassen sich widersprüchliche Aussagen unmittelbar verschränken und verbinden, so daß der Eindruck eines komplexen Geflechts von Beziehungen zwischen Ansätzen entsteht, ohne daß klare historische oder gattungsspezifische Linien gezogen werden können. Paul Zelevansky faßt einen solchen Effekt unter dem Stichwort »Entropy« zusammen und erklärt das Wort in diesem Zusammenhang folgendermaßen:

The dispersal of the reader's concentration over the surface of the page towards various nodes and satellites of attraction and stimulations which results in the dissipation of focused intellectual energy in the search for coherent meaning. Entropy is the exchange of contemplation for stimulation, the diminishing value of linear content as the galley-structured reading process runs down.[28]

Zelevansky vergleicht das Navigieren durch einen solchen Text mit dem Fahren durch rhizomartig wuchernde Städte wie Los Angeles oder Tokio: »[...] the experience of travelling through them not only orients the reading of the cultural and physical landscape, but defines it« (173). Die Rezeptionserfahrung von EVE läßt sich mit dieser Darstellung vergleichen. Die Idee eines stabilen, klar umreißbaren Rezeptionsvorganges wird hier ad absurdum geführt, das Bombardement durch Farben, Tönen, Formen, Bewegungen, Meinungen fühlt sich immer wieder anders an und verändert die Bedeutung einer Konstellation, eines Raumes bei jedem Durchlauf.

Ein typisches Beispiel für die dynamische Collagetechnik, die dieser Rezeptionsbewegung zu Grunde liegt, ist ein Raum, in dem sich verschiedene Mannequins befinden. Sechs nackte weibliche schaufensterpuppenähnliche Gestalten, deren Umrisse alle gleich sind, stehen in Gruppen zu jeweils drei Figuren in einem ansonsten leeren Raum. Unterlegt sind Partygeräusche: leise Unterhaltungen, Lachen, das sanfte Klirren von Gläsern, entfernte Musik. Klickt man nun einzelne, je nach Figur ganz unterschiedlich bemalte ›Körper‹teile an, blinkt der Arm, Bauch, die Augen oder die Brust auf, es bewegt sich eine animierte Zeichnung über den Bildschirm, und es erklingen Töne. Die Zusammenstellung von Bild und Ton beziehungsweise Sprache ist teilweise ernst, teilweise lustig. Sie kombiniert philosophische Aussagen mit alltäglichen. ›Grapscht‹ man etwa einer der Puppen an die Brust, fliegt einem ein Fisch entgegen, und eine Männerstimme preist die weibliche Schönheit. Richtet man den Mauszeiger auf die unheimlich blau blinkenden Augen, ertönt ein Frauenkichern, blaue Schallwellen gehen von den Augen aus, werden schwarz und rot und verschwinden. Klickt man auf den Unterbauch einer anderen Puppe, bewegt sich ein Kottelett durch die Luft, begleitet von männlichem Stöhnen. Bei einem anderen Bauch ertönt eine Telefonklingel zu einer fliegenden Banane. Ein sprechender Mund fliegt von einem Kopf und setzt sich in einem anderen fest, zu Frauenhusten fliegen die Schriftzüge »YES« und »NO« aus einem Kopf. Eine Frauenstimme sagt: »In a way we're not fit for the world we've created for ourselves«, während ein kleiner Matrose aus dem Knie einer Puppe kommt.

Mannequins waren bereits während der avantgardistischen Moderne dieses Jahrhunderts sehr beliebt, wie Elena Filipovic schreibt: »Gerade weil sie durch ihre Herkunft aus der Massenkultur und ihre Verquickung mit Konsumentenwünschen kompromittiert waren, [...] warfen diese kurzlebigen Mannequin-Objekte Fragen über das Kunstwerk, die Kunstgeschichte und das Museum auf, die heute noch so relevant sind wie 1938.«[29] In der ersten Hälfte des Jahrhunderts fungierten Mannequins allerdings als Fetischobjekte. Sie standen für das nostalgische Verlangen nach einem Körper ein, der nicht durch die Industriearbeit von sich entfremdet war. In EVE werden die Gliederpuppen als Pastiche[30] eingesetzt. Pastiche-Verfahren, die Fredric Jameson als typisch für die Postmoderne bezeichnet, stellen Texte und Bilder aus ganz verschiedenen kulturellen und historischen Bereichen nebeneinander: »[...] they incorporate them, to the point where the line between high art and commercial forms seems increasingly difficult to draw« (114). Die Einverleibung historischer Kunst- und Körperkonzepte durch eine zeitgenössische Konstellation konstatiert nicht nur den Verlust traditioneller Essentialismen und Grenzziehungen, sondern stellt ihn lustvoll aus und feiert ihn.

Als anthropoide Artefakte stellen Mannequins weibliche Geschlechtsmerkmale dar, ohne sie ›natürlicherweise‹ zu verkörpern, und verweisen so auf die performative Qualität von ›Weiblichkeit‹ und das voyeuristische Begehren, das sich auf diese Weiblichkeit richtet. Die Reaktionen auf die zur Schau gestellten Merkmale – Bewunderung, Angrapschen, Reduzieren des weiblichen ›Wesens‹ auf einzelne Körperteile – entsprechen gesellschaftlichen Verhaltensmustern, die als selbstverständlich gelten und mit Hilfe komplexer Diskurse und Körperdisziplinen naturalisiert sind. Nicht die Geschlechtsmerkmale, sondern die Reaktionen auf sie sind hier den Puppenkörpern in einer Art Camp selbst eingeschrieben – in einer überzogenen Inszenierung der Performanz von Weiblichkeit, die eigentlich immer ein Gegenüber voraussetzt.

Die Puppen verweisen darauf, daß die »bodily intelligibility«, die Judith Butler in Bodies That Matter als eine Funktion des Körper-Ichs herausstellt,[31] über Konturen, ästhetische Versatzstücke und Erzählkonventionen erreicht wird. Der Realitätseffekt dieses ›Spiels‹ ist ein physischer: Er macht den Körper zu einem verständlichen, das heißt einem geschlechtlich spezifischen weiblichen beziehungsweise männlichen.

Ausgehend von einem performativen Konzept von Körpern, setzen diskursorientierte Theorien den Begriff ›Technologie‹ ein, wenn sie von der ›instrumentellen Codierung‹, der Zurichtung, Beobachtung und Einordnung von Körpern in bezug auf Räume, Kategorien und Gegenstände sprechen. Foucault schreibt in Überwachen und Strafen: »[...] die Macht bindet den Körper und das manipulierte Objekt fest aneinander und bildet den Komplex Körper/Waffe, Körper/Instrument, Körper/Maschine.«[32]

Die ›Technologie‹, welche die Heterotopie des Computerspiels EVE bei aller thematischen und formalen Entropie, bei der Fragmentierung, schweren Lesbarkeit und trotz der Rezeptionsvorgänge, die eher durch Stimulation denn Verstehen gekennzeichnet sind, zusammenhält, ist eine ganz spezielle Technik, nämlich die der neuen Medien. Sie dient nicht dazu, dem Lesenden einen Realitätsbezug des Textes, gemessen an einer wie immer angenommenen lebensweltlichen Wirklichkeit, zu garantieren. Vielmehr hat die Technik die Aufgabe, einen textinternen Wirklichkeitseffekt und eine ästhetische Stimmigkeit zu erzielen.

Im Falle der phantastischen Literatur und der Science Fiction zielt die ›Inszenierung der Wirklichkeit‹ schon immer ganz vordergründig auf textinterne Stimmigkeit ab. Somit sind diese Genres wie auch die Kunst der modernen Avantgarde oder das Computerspiel EVE in besonderer Weise auf die Mitarbeit der Lesenden angewiesen: Diese müssen sich auf die genre- und textspezifischen, oft paranoid strukturierten Wirklichkeiten einstellen, sich auf einen Text überhaupt einlassen, der ihnen Szenarien vorsetzt, in denen fremde, ungewöhnliche und gegensätzliche Aussagen und Bilder aufeinanderprallen. Diese Texte sind also sehr offensichtlich eine Coproduktion zwischen Produzierenden und Lesenden.

Diese Coproduktion zentriert sich in der Science Fiction und in manchen Strömungen der avantgardistischen Moderne um den Fetisch der Technik. In diesen Texten spannt sich zwischen Verfasserinnen und Verfassern und Leserinnen und Lesern eine Schreib-Lese-Maschine auf, die auf einer Übereinkunft über den Technologiefetisch beruht. Und diese Maschine produziert endlos immer neue Heterotopien, die schon generisch an vielen fremden Orten zugleich zu Hause sind. Die Wunschökonomie, die sich aus dem Auseinanderklaffen von Gestern, Heute und Morgen, von Altem und Neuem, von Regelmäßigem und Innovativem speist, macht das Szenario der Heterotopie zum perfekten kapitalistischen Produkt: Damit ist es gerade die auch von der Kritik immer wieder betonte Spannung zwischen Konformität und Subversivität, die auch einem Produkt wie EVE erzähl- und markttechnisch gesehen zum Erfolg verhilft.

Die Körpertechnologien – als Inszenierungen des Körperlichen – und die neuen Medientechnologien – als Inszenierungen des Medialen – überlagern sich in EVE und betonen gegenseitig ihren Konstruktcharakter: Die Medien bilden Körper ab, zersetzen sie in künstlerische und künstliche Bestandteile, setzen sie neu zusammen und stellen ihren Inszenierungscharakter in den Vordergrund. Diesem Auflösungsprozeß wirkt allerdings eine andere Bewegung entgegen, die sich an der metaphorischen Bedeutung des Buches für diese CD-ROM zeigen läßt.

Es erscheint auf den ersten Blick kurios, daß die CD-ROM EVE durch ein Printmedium ergänzt wird. Noch seltsamer scheint dieses Phänomen, wenn man bedenkt, daß die Vervielfältigung einer CD-ROM wenige Pfennige kostet, die Produktion eines fast sechzigseitigen Heftes aus starkem Karton mit eingebundenen durchsichtigen Schmuckseiten aber sehr kostenintensiv ist. Es liegt die Vermutung nahe, daß Gabriel es seinen Fans nicht zu schwer machen will, sich auf ein völlig neues Medium einzustellen. Doch das ist es nicht allein. Auch auf der CD-ROM selbst hat das Buch einen wichtigen symbolischen Stellenwert inne.

Am Ende des Spieles erscheint ein Buch in Form eines Hologramms. In ihm finden die Benutzerinnen und Benutzer die Pläne der verschiedenen Welten und Räume des Spieles. Alle Stationen lassen sich anklicken und vervollständigen. Das Buch erhält durch diese Plazierung am Ende des digitalen Textes eine ganz besondere Bedeutung: Ähnlich wie in dem Computerspiel Myst gesteht der Hypertext der traditionellen Buchform Schlüsselcharakter zu, eine Geste, die Johanna Drucker folgendermaßen kommentiert:

The oldest of film clichés – that simulated sequence of turning pages – now finds its electronic form in video games and CD-ROM formats that fetishize the esoteric mystery of the book as a sacred text or tome, turning those pseudo-pages before the eye to replicate that gradual process of revelation.[33]

Durch den Rückgriff auf das Buch macht auch EVE von dem hohen kulturellen Stellenwert, den das Buch in westlichen Kulturen immer noch besitzt, Gebrauch – die CD-ROM autorisiert ihre Erzählbewegung über das Buch.[34]

Eine ähnliche Funktion erfüllen die vielfachen Rahmen-Inszenierungen von EVE. Einerseits verhindern sie, daß der komplexe Inhalt ›aus dem Rahmen fällt‹; andererseits werden die Rahmungen so exzessiv wiederholt, daß sie ironisch wirken. In jedem Fall wird den Spielerinnen und Spielern ein selbstreflexiver Umgang mit dem Medium signalisiert und nahegelegt. Die postmodernen Strategien wirken je nach Rezeptionskompetenz auf die Spielerinnen und Spieler in unterschiedlicher Weise. Allerdings ist davon auszugehen, daß die meisten Rezipientinnen und Rezipienten von EVE die privilegierte Stellung der Konsumentinnen und Konsumenten von Information und Kunststücken genießen. Zumindest die Anhänger von Peter Gabriel verfügen über die technischen, kulturellen und identitätsstiftenden Rezeptionskompetenzen, um die Lesemaschine des Textes ungefährdet überstehen zu können. In diesem Fall beherrschen sie die Lesestrategien des Buches, des postmodernen Spiels und der CD-ROM so gut, daß sie ihre privilegierte kulturelle Position nie in Frage stellen müssen. Eine solche selbstreflexive, ironische, postmoderne Positionierung fordert der Text ein.

Gabriels Ziel, multimediale Kunst als »Werkzeugkasten« einzusetzen, aus dem sich jeder ganz nach Belieben bedient, setzt vor allem zwei Dinge voraus: eine Medientechnologie, die das nahtlose Verkoppeln der verschiedensten Medien und der Zeit- und Strukturebenen erlaubt, und Körperkonzepte, die Unterschiede ohne zugrundeliegende Identitäten erzeugen. Es entsteht eine Struktur, die durch Collage, Montage und Pastiche gekennzeichnet ist, Verfahren, die geschlossene Identitätsvorstellungen unterlaufen und deshalb um so erfolgreicher dabei sind, verstreute, changierende und oberflächliche Körpergeschichten ohne Geschichte zu produzieren. Diese Körpergeschichten werden als spielerisch, flexibel und unverbindlich präsentiert, so daß sie das subversive Potential performativer Körperkonzepte nicht ausschöpfen. Anstattdessen legt die von vielen Künstlerinnen und Künstlern gemeinsam gestaltete Spielumgebung die Hoffnung nahe, daß sich die ›körperlichen‹ Unterschiede zwischen Menschen bei etwas gutem Willen doch letztlich in einem großen, gemeinsamen Metaspiel auflösen lassen. Wie aber geht Tomb Raider, eines der populärsten Computerspiele der letzten drei Jahre, mit zeitgenössischen Körperkonzepten um?

3. SPIEL MIT DEM DU: TOMB RAIDER

Die vollbusige Lara Croft ist nicht nur die Hauptfigur eines der weltweit meistverkauften Computerspiele seit 1996[35], sondern tritt auch im Fernsehen auf, ziert die Titelseite von Zeitschriften und brilliert in Musikvideos[36], posierte in ihrem engsitzenden T-Shirt auf Plakatwänden für Die Welt und rannte für eine TV-Werbekampagne der deutschen Frauenzeitschrift Brigitte Anfang 1999 durch enge Gänge. Der Kinostart eines Tomb Raider-Spielfilms ist für Ende 1999 geplant.[37] PowerPlay 11 nennt Lara Croft die »zum absoluten Multimedia-Star avancierte Ikone des Computerspielgenres«.[38] Tomb Raider ist ein Vorzeigeprodukt des Computer- und Video-Zeitalters, ein Verkaufsschlager auf der ganzen Linie. Doch nicht nur auf dem Weltmarkt reussiert die schlagkräftige Engländerin; sie ist auch ein Erfolg an der feministischen Front und wird als Ikone des Postfeminismus sowohl gefeiert als auch verflucht.

Lara ist ein Star – nicht nur für eine Gruppe von Computerbesessenen, sondern in der gesamten westlichen Konsumwelt. Um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, reicht es nicht aus, die technischen Feinheiten von Tomb Raider zu kennen, und eine im engeren Sinne medienspezifische Interpretation des Spiels kann keine Antwort auf die Frage geben, was Lara Croft so populär macht. Auch die Waffen, die sie bei sich führt, sind es nicht allein – in Tomb Raider II etwa schießt Lara mit zwei Pistolen, einer Schrotflinte, Maschinenpistolen, einer Harpune, Uzis, einem Granatwerfer und dem Schnellfeuergewehr M-16 auf ihre vielfältigen Gegner. Schießen können aber alle Protagonisten und die wenigen Protagonistinnen von sogenannten ›Ballerspielen‹, ohne so populär zu werden wie Lara.

Laras stärkste Waffe ist ihr Körper. Und sie setzt ihn buchstäblich als Waffe gegen all die Gefahren ein, die sie im Lauf des Spieles bedrohen. Deshalb trainieren die Spielerinnen und Spieler zu Anfang des Spieles nicht nur den Umgang mit Feuerwaffen, sondern auch den mit Laras Renn-, Sprung- und Schwimmeigenschaften. Von Folge zu Folge wird Lara stärker, hat mehr und immer tödlichere Waffen zur Verfügung, begegnet immer gefährlicheren Feinden in den gegensätzlichsten Umgebungen.[39] Im dritten Teil von Tomb Raider etwa schlägt sich die Protagonistin durch Dschungel, Wüste, eine Südseeinsel und ewiges Eis, durchmißt die dunklen Gänge von Tempelruinen und die engen Gassen nächtlicher Stadtlandschaften in vollem Tempo, schwimmt behende durch unterirdische Höhlen, taucht wie ein Fisch nach versunkenen Schiffswracks, erklimmt Steilfelsen und rutscht in tiefe Eishöhlen hinab, macht Saltos und hangelt sich an Simsen entlang – kurz, sie nimmt immer den schnellsten Weg zur nächsten Herausforderung.

Der Gegenstand, den die Archäologin und Grabräuberin vordergründig sucht, ist nur ein Vorwand für den ungestümen Bewegungsdrang, das stete Vorwärtsstreben dieser Figur. Lara geht nicht, sie rennt. Ihre Sprungkraft ist olympiareif, ihre technische Ausstattung perfekt. Die Spielenden müssen sich Laras rasendem Tempo anpassen, was enormes Geschick verlangt. Sie müssen lernen, sich trotz Laras Geschwindigkeit immer wieder mit Hilfe der Umschaufunktion im Raum umzusehen, um nach Gegnern Ausschau zu halten und nicht nur reagieren, sondern auch agieren zu können.

Tomb Raider spielt man in der dritten Person – die Perspektive ist nicht die Laras, sondern die Spielerinnen und Spieler stehen meist hinter ihr und sehen ihr quasi über die Schulter. Stephen Poole bemängelt die Perspektive:

The constantly changing third-person perspective makes executing tricky moves needlessly difficult – something that's particularly frustrating given the circus-style acrobatics Lara needs to perform to get past many obstacles. And despite the PR hype of a female video-game heroine, Lara's not exactly what you'd call a role model: Her inflatable-doll figure probably deflates the self-esteem of girls as much as it excites the 14-year-old males the game was obviously designed for.[40]

Poole kritisiert nicht nur den technischen Aspekt der Perspektive, sondern springt von der Frage der Manipulierbarkeit der Figur sofort zu einer Einschätzung ihrer Wirkung auf die Spielerinnen und Spieler. In der Tat hängen die technische Manipulierbarkeit und die rezeptionsästhetische Dimension eng zusammen.

Die Figur Laras verstellt den Spielenden oft die Sicht auf Gegner, die überall lauern, und verhindert spontane Reaktionen auf Angriffe. Die Nutzerinnen und Nutzer müssen sich immer auch mit Laras Körperhaltung, ihren Bewegungen und ihrer grafischen Positionierung im Raum herumschlagen. Die Hoffnung, Macht über die Spielfigur zu haben, wird bereits zu Beginn des Spiels enttäuscht, wenn Lara wie in Folge II zuerst einmal eine schiefe Fläche hinunterrutscht und ihre Bewegung nicht beeinflußt werden kann. Diese Rutschpartie ist der erste Hinweis an die Spielenden, daß sie keine absolute Kontrolle über die Figur ausüben.

Die Bedienungsführung der Figur mit der Tastatur ist äußerst trickreich und gewöhnungsbedürftig. Die exakte Steuerung wird durch verwirrende Tastaturkombinationen erschwert, etwa das Drücken der Keypad-Tasten bei gleichzeitigem Betätigen der Strg-, Shift- oder Alt-Tasten, oft in Verbindung mit den Pfeiltasten. Dabei ist Präzision gefragt: Mißlingt ein Sprung oder gewinnt ein Gegner, wird Lara verwundet oder ›stirbt‹, und die Szene muß aufs neue geprobt werden. Um auch die komplexen Aneinanderreihungen von Bewegungen – Springen und gleichzeitiges Drehen, Springen und sofortiges Festhalten, wild schießend im Zickzack rennen[41] – in den Griff zu bekommen, muß man lange Zeit üben. Die Spielenden müssen sich den technischen Gegebenheiten anpassen, oder sie scheitern.

Florian Rötzer beschreibt diesen Vorgang bei Abenteuerspielen wie folgt:

Adventure games stellten eine neue, erst durch interaktive Computersimulationen mögliche Gruppe von Spielen dar, die in einer dem Spieler anfangs noch unbekannten labyrinthischen Welt ein Verhalten der Exploration herausfordern, um nach und nach deren Regeln kennenzulernen. Diese Welt schaut man sich nicht von außen an, sie erschließt sich erst von innen – durch die Entscheidungen, die man trifft, indem man irgendeine, den Spieler repräsentierende Figur durch Szenarien steuert, ohne Überblick über das Ganze und den Weg zu haben, der einen schließlich ans Ziel führt (S. 190).

Dieser Prozeß des Kennenlernens der Figur und des Umgehens mit ihren Vorzügen und Nachteilen ist ganz entscheidend für den Spielverlauf. Die Probleme bei der Führung einer Spielfigur fordern die Spielerinnen und Spieler heraus, ihr Bestes zu geben. Grundsätzlich gehört eine solche Eingewöhnungsphase zu jedem Computerspiel und noch allgemeiner zu jedem fiktionalen Szenario, dessen Regeln die Rezipientinnen und Rezipienten zu Anfang erst erschließen müssen.

Interessanterweise ist Lara im Gegensatz zu den meisten anderen Helden aber eine weibliche Figur, das heißt bei ihr hat das Kennenlernen und die Perspektivierung eine grundsätzlich andere Qualität als bei männlichen Protagonisten, wie verschiedene Aussagen von Kritikerinnen und Kritikern und Spielerinnen und Spielern bestätigen.[42] Es ist ungewöhnlich, sich hinter einer (hyper-)weiblichen Figur so verstecken zu können wie hinter Lara: Sie steckt Schläge ein, und sie schlägt zurück. Ähnlich wie die Protagonistin eines Schauerromans oder eines Splatter Movie übernimmt Lara Stellvertreterinnenfunktion für ihre Rezipientinnen und Rezipienten. Sie testet ein gefährliches Terrain aus, dem die Spielenden an ihrer Stelle nicht gewachsen wären.

Lara ist Waise, ihre aristokratischen Eltern hat sie bei einem Flugzeugabsturz verloren, und seither muß sie sich allein durchs Leben schlagen. Das tut sie buchstäblich. Denn sie ist kein häuslicher Mensch. In ihrem fürstlichen Anwesen wird das überdeutlich: Es ist mit Möbeln ausgestattet, die viel zu groß für Lara sind. Das Haus teilt sie mit einem Butler, der sich wohl um ihre körperlichen Bedürfnisse kümmert – soweit sie überhaupt welche hat. Die Anwenderinnen und Anwender interessiert im Spiel Laras Gesundheitszustand ohnehin nur als Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit. Lara braucht keine Lebensmittel; ähnlich einer Maschine oder einer Notfallpatientin wird ihr Energiepegel ständig gemessen und kann nach Attacken und Verletzungen durch große und kleine ›Medipacks‹ wieder optimiert werden. Unter Wasser wird auch Laras Vorrat an Atemluft andauernd überprüft und angezeigt. Die Kontrolle der Leistungsfähigkeit ist wichtig, da Lara ›stirbt‹, wenn ihre Kraftreserven aufgebraucht sind.

Lara ist für die Gefahren, in die sie sich begibt, optimal ausgestattet. Wir sind es im Umgang mit ihr und ihren Feinden nicht. Wir müssen uns den Zugang zu ihr und zu den Räumen, in die sie ohne unsere Fertigkeit nicht gelangen kann, mühsam erkämpfen. Dementsprechend besteht der Kitzel des Spieles darin, sich als erdgebundene Spielerinnen und Spieler an eine jenseits aller Alltagsrealität für den fiktionalen Raum optimierte Spielfigur anzunähern. Das Überwinden des Interface, das bestmögliche Ausnutzen der ungelenken Schnittstelle zwischen den sehr unterschiedlichen Erfahrungsräumen der Alltagswirklichkeit und der virtuellen Welt wird zur eigentlichen Aufgabe der Spielenden. Erst wenn einem die Befehle in Fleisch und Blut übergehen, vermittelt die Steuerung ein Gefühl der Macht über die Bewegung im Handlungsraum. Die körperliche Annäherung an die gesteuerte Figur ist ein wichtiges Ziel der Spielenden.

Das Computerspiel Tomb Raider macht die Schwierigkeit, von der Erfahrungswelt aus in eine fiktionale Umgebung einzugreifen, zum Thema. So wird analog zum Rezeptionsprozeß im Schauerroman der Umgang mit dem Spieletext zum körperlich spürbaren Problem. Die Identifikation mit der Hauptfigur ist spannend, aber nicht ganz ungefährlich. Lara steht in ihrer Ablehnung (meist sehen die Spielerinnen und Spieler sie von hinten) und Unerreichbarkeit (wer sich ihr im Spiel nähert, bereut es meist) metaphorisch auch für ein Begehren, das immer unerfüllt bleiben muß: das Begehren, eins mit ihr zu sein. Die Wiederholungsstruktur vieler Texte aus dem Horror- und Abenteuergenre speist sich aus dieser Tatsache ebenso wie die der Tomb Raider-Serie.

Clark N. Quinn, Designer von Lernumgebungen, faßt in einem Aufsatz die Bedingungen zusammen, die das Design eines Computerspiels erfüllen muß, um ›erfolgreich‹ zu sein:[43] Demnach muß ein Spiel ästhetisch kohärent sein und einen klaren Stil besitzen, dem sich alle Bestandteile fügen. Außerdem muß es die Spielenden ästhetisch und/oder leistungsorientiert motivieren, damit sie überhaupt damit spielen. Zu guter Letzt muß es konkret in einem Kontext situiert sein, wobei es Quinns Meinung nach »keine Richtlinien bei der Erzeugung eines solchen Kontextes« gibt.

Wie bei Tomb Raider deutlich wird, existieren durchaus Richtlinien, denn Spiele sind in technische, historische und kulturelle Kontexte eingebunden. Laras Körper fungiert in diesem erfolgreichen Spiel als ein Fetisch, der in Verbindung mit einem ganzen Waffenarsenal die Anwenderinnen und Anwender an das Spiel fesselt. Sie verkörpert das Interface – als einen ›anderen‹ Raum, der den Spielenden entrückt ist, und der doch stets lockt. Sie ist das perfekte Bild für die Matrix, wie der Datenraum auch genannt wird, für den ›mütterlichen‹ Raum. Wenn sie sich schützend vor die Spielerinnen und Spieler stellt und ihre Gestalt den gesamten Bildschirm einnimmt, wird sie denn auch zur allmächtigen Überfrau.

Die Verbindung des virtuellen Raumes mit dem Weiblichen ist kein Zufall. Unsere räumliche Vorstellung vom Digitalen ist kulturell und historisch sehr spezifisch. Von Anfang an war sie mit Bildern des Weiblichen durchsetzt, wie etwa Katherine Hayles und Vicki Kirby zeigen.[44] Auch das oft gebrauchte Bild vom ›Erschließen‹ eines ›unberührten‹, ›unendlichen‹ Datenraums schließt direkt an die imperialistische Gleichsetzung eines einzunehmenden fremden Raumes mit dem Weiblichen an.

Sherry Turkle und Katherine Hayles machen in ihren Texten klar, daß sich die Konzeption der Interaktivität innerhalb der letzten dreißig Jahre drastisch verändert hat.[45] Das Überwinden der Text-Rezipientinnen-Dichotomie, »das Modell des externen Beobachters« wurde, in den Worten Florian Rötzers, »nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Kunst immer mehr aufgebrochen.«[46] Ich möchte hinzufügen, daß dieses Ziel auch die Entwicklung kommerzieller Computerspiele vorantreibt, womit der Anspruch auf Aufhebung einer einstmals klaren Subjekt-Objekt-Trennung nicht nur theorie-, sondern auch marktkonform wird. Der Wunsch von der Aufhebung der Trennung zwischen dem User, den Beobachterinnen und Beobachtern, und dem Beobachteten entspricht vor allem dem Wunsch nach Nähe, nach Aufheben des Unterschieds zwischen dem Ich und dem anderen, und damit einem Begehren, das die Kommunikation zwischen Menschen und die Rezeption von Texten immer schon antreibt.[47]

So wird Lara zugleich zur Identifikationsfigur und zum Objekt der Begierde, zur Herausforderin, die sich andauernd neuen Feinden stellt, zum Schild, hinter dem man Schutz suchen kann, aber auch zum Manipulationsobjekt, zum Opfer unzähliger Attacken. Erst wenn die Spielenden mit ihr umgehen können, wird sie zur letztlich unbesiegbaren Heldin. Diese vielfältigen Funktionen erfüllt sie je nach Spielsituation, Begehrensstruktur der Spielenden und nach Geübtheit der Person, die sie führt.

Das Attribut der Wiederauferstehung, wohlbekannt von Serienhelden aus Film und Fernsehen und aus Comics, verschafft dem Duo Spielerin und Lara einen unschätzbaren Vorteil auch den stärksten Feinden gegenüber. Andererseits findet sich diese Unsterblichkeit letztlich ebenso bei den Gegnern, dafür sorgt die Wiederholungsstruktur der Kampfsituationen. Unzählige Fledermäuse, Wölfe und Kampfhunde, Gorillas und Krokodile, miese Räuber und hinterhältige Wegelagerer lauern Lara auf und wollen bezwungen werden. Die Nutzerinnen und Nutzer haben den Vorteil, eine Szene viele Male üben und abspeichern zu können. Die Versuchsanordnung »Lara trifft auf Feind und besiegt ihn« setzt sich ins Unendliche hinein fort, unterstrichen durch den Fortsetzungscharakter der Computerspiele, – jede neue Version lockt mit ausgefeilterer Grafik und besserem Sound. Der technische Fortschritt im Computerbereich geht hier Hand in Hand mit dem Bedürfnis, Kampfsituationen unendlich oft zu wiederholen und sich als ein Team aus Spielerin und Spieler und Lara zu beweisen.

Tomb Raider ist ein 3D-Spiel, ist also auf dem momentanen technischen Stand und bietet im Gegensatz zu früheren Spiele-Generationen dreidimensionale Erlebniswelten in Echtzeit.[48] Die Perspektive der Spielerinnen und Spieler verändert sich in allen notwendigen Einzelheiten bei jeder Bewegung der Heldin. Auch die Lautstärke und die Richtung von Tönen verändern sich, wenn ich Lara auf dem Bildschirm in Relation zur Geräuschquelle neu positioniere. Ein Artikel umschreibt den Effekt eines dreidimensional erweiterten Stereosystems im Dolby-Digital-Standard folgendermaßen: »Imagine the sound of a helicopter that seems to be moving overhead or the breathing and footsteps of a monster sneaking up behind you.«[49] Die 3D-Technik zielt in Tomb Raider darauf ab, einen Rundum-Effekt zu erzeugen, der die Metapher des Eintauchens in eine virtuelle Raumwelt in die Tat umsetzen und das Interface vergessen machen soll.

Entsprechend strebt die Computergrafik in vielerlei Hinsicht photorealistische Effekte an, wie man sie aus den Disney-Filmen Toy Story oder A Bug's Life kennt. Auf dem Gebiet der Animation ist inzwischen viel möglich, wie vor allem Teil II und III von Tomb Raider zeigen:[50] Die Figuren werfen dynamische Schatten, Windrichtungen können sich laufend ändern und wiederum Wasseroberflächen in verschiedene Bewegungen versetzen. Figuren können ein Objekt von allen Seiten begutachten, animierte Objekte in wechselnden Perspektiven in Bewegung dargestellt werden und hinter anderen Gegenständen langsam verschwinden und wieder auftauchen, wobei diese ihr Aussehen ebenfalls verändern, je nachdem, ob sie gestreift werden oder ein Schatten auf sie fällt.

Im komplexen Zusammenspiel aus einer Unzahl von Effekten erscheint das Ambiente realistischer als je zuvor: Grafik- und Tonmanipulation tragen ebenso zum Realitätseindruck bei wie die Musik. Dieser Realitätseffekt orientiert sich in Spielen wie Tomb Raider stark an animierten Filmproduktionen, was zum Teil daran liegt, daß die Animationen durch Spezialistinnen und Spezialisten aus dieser Branche durchgeführt werden.[51] In dieser Hinsicht durchdringen sich Software- und Filmanimation zunehmend.

Sherry Turkle betont, daß sich seit den 1970er Jahren die Struktur der Programmierung und der Programme grundlegend verändert habe: »Today's software programs typically take the form of a simulation of some reality [...] and try to place the user within it.«[52] Computerspiele nahmen dieses Rundum-Prinzip von Anfang an ernst – nicht zuletzt deshalb, weil sie aus einer Tradition von fiktionalen Erzähl- und Spielewelten entstanden waren. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit der postmodernen Aufwertung des Spielens, der Simulation, des Austestens, der Bricolage, das heißt des Bastelns. Und der Computer, genauer gesagt, das Fensterprinzip der Oberflächen, verkörpert dieses Prinzip in besonderer Weise. Die Vormachtstellung des ›Fensters‹ der Macintosh- und Windows-Oberflächen breitete sich in den vergangenen Jahren ähnlich schnell aus, wie die Entwicklung von 3D-Raum- und -Spielewelten voranschritt. Der Raumeffekt wird in beiden Fällen als der Blick beziehungsweise der Schritt in eine ganz andere Welt inszeniert, in eine Welt, in der andere Gesetze gelten als in der Alltagswirklichkeit.

Aber Lara Croft verdankt ihre Gestalt und ihr Auftreten noch anderen, nämlich fiktionalen Traditionen. Sie ist nicht die erste Frauenfigur ihrer Art. Ihre Vorläuferinnen finden sich in den Comics, und so erinnert Laras hyperweibliche Figur und ihr gestählter Körper an weibliche Comic-Cyborgs und Superfrauen, angefangen bei den bösen Gegnerinnen von Flash Gordon in der 1934 von Alex Raymond kreierten Comicserie bis zu William Marstons und H. G. Peters Wonder Woman, die 1941 mit folgenden Worten eingeführt wurde: »As lovely as Aphrodite – as wise as Athena – with the speed of Mercury and the strength of Hercules – she is known only as Wonder Woman«[53]; und von Batwoman, Begleiterin von Batman seit 1956, bis zu Barbarella (die seit ihrer Geburt 1964 in Frankreich weltweit Erfolge gefeiert hat) und Vampirella, die seit 1969 Männern das Blut aussaugte

Diese Frauenfiguren werden allerdings in der Kritik recht abwertend behandelt, und noch über die populären Comic-Superfrauen der 90er Jahre höhnt Scott Bukatman:

Hypermasculine fantasy is also revealed, with unabashed obviousness, in the approach to female superheroes. The spectacle of the female body in these titles is so insistent, and the fetishism of breasts, thighs, and hair so complete, that the comics seem to dare you to say anything about them that isn't just redundant. [...] of course these women represent simple adolescent masturbatory fantasies (with a healthy taste of the dominatrix). [54]

Bukatman kommt zu dem Schluß, daß diese Heldinnen der 90er Jahre dem gleichen gepanzerten Körperideal frönen, dem auch die männlichen Helden entsprechen: »[...] Overall, the trend has been toward masculinized, even phallic, women – armed to the teeth and just one of the boys« (S. 114).

Bukatman beschreibt die Comic-Heldinnen hier als phallische Frauen. Während ihr Körperbau mit dem überdimensionierten Busen, den übertriebenen Kurven und den überlangen Beinen Weiblichkeit signalisiert und diese stilisierte Körperlichkeit durch die knapp sitzende, spärliche Kleidung noch unterstrichen wird, vereinen sie auch alle Eigenschaften in sich, die traditionell männliche Abenteurer auszeichnen: Sie stählen ihren Körper, bewahren stets Haltung, suchen die Gefahr, sind kaltblütig, Einzelgängerinnen und Einzelgänger vertrauen allein auf sich. Aber diese Eigenschaften machen sie nicht zu Männern.

Laras überproportional weiblich gestalteter Körper scheint genau das zu sein, was er zu sein vorgibt; sie setzt ihn geradeheraus zu Kampfzwecken ein. Ein solch geradliniges, ›ehrliches‹ weibliches Körper-Ich bildet aber kurioserweise nicht nur die Grundlage mancher feministischer Programmatik,[55] sondern auch die Voraussetzung für eine völlig andere Textsorte, nämlich den pornographischen Text. Zur eindeutigen Darstellung des weiblichen Körpers in der Pornographie schreibt Susan Bordo in Reading the Male Body 1994: »The [woman's] body in porn ›speaks‹ this willing contraction of the self in gestures of total receptivity to the male – spread legs, for example« (S. 707). Hier ›spricht‹ der Körper eindeutig für eine weibliche Subjektposition, die die Pornographie fetischisiert: Der weibliche Körper ist überdeterminiert als eindeutiges Zeichen für seine absolute Akzeptanz dem Mann gegenüber. Hier ist der Mann noch Mann, weil die Frau ihn als solchen akzeptiert.

Lara Croft steht nicht nur für die phallische Frau und den pornographischen Fetisch, sondern tritt auch als eine Vertreterin der ästhetischen Kategorie des Schönen auf. Die schöne Frau, seit der Avantgarde der Moderne aus der Ästhetik der bildenden Kunst und Literatur in die Populärkultur verdrängt,[56] findet sich heute in Protagonistinnen wie Lara Croft wieder. Die eindeutig lesbare und insofern – hermeneutisch gesehen – harmlose schöne Frau kehrt wieder. Diesmal allerdings angereichert durch die aggressive, fetischisierte Haltung der Femme Fatale der Jahrhundertwende, und deshalb in der Gestalt einer holzschnittartig gezeichneten Superfrau, einer aufrechten und vor allem einsamen Figur. Im Spiel ist Lara kontaktarm und prüde, ein sexuelles Interesse wird nicht einmal angedeutet. Und doch: Auf den Abbildungen der achtseitigen Bedienungsanleitung zum ersten Teil blickt sie das Gegenüber mehrmals mit weit aufgerissenen braunen Augen an, und ihre körperlichen Vorzüge werden ins beste Licht gerückt.[57]

Lara Croft verkörpert eine eindeutige Weiblichkeit – eine Seltenheit in Zeiten der ambivalenten Geschlechterverhältnisse –, ist aber nicht mit traditionellen ›weiblichen‹ Eigenschaften wie Passivität, Bindungsbedürfnis und Verschlagenheit belastet. Damit kommt sie nicht nur jungen Frauen entgegen, die sie als Vorbild akzeptieren. Auch junge Männer, die nach wie vor den Großteil der Computernutzerinnen und Computernutzer ausmachen, profitieren von diesen Eigenschaften: Sie können sich mit Laras Mut und Durchschlagskraft, mit ihrem eindeutigen Körpergefühl identifizieren und zugleich voyeuristisch ihren Körper bewundern – ohne emotionale ›Bindungen‹ befürchten zu müssen.

Die Protagonistin wird auf verschiedenen Ebenen als eine vermittelnde Figur inszeniert. Zum einen erforscht Lara als Archäologin eine dunkle, sagenumwobene Vergangenheit und schändet jahrtausendealte Gräber, um das Wissen der Gegenwart zu vermehren. Zum anderen gibt sie auch Wissen an die Spielerinnen und Spieler weiter – meist Jugendliche, die sich zwischen der Welt der Kinder und der der Erwachsenen orientieren müssen, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Jugendlichen sind aufgefordert, zu einer eindeutigen sexuellen Identität zu finden. In dieser Situation stellt sich Lara schützend vor die Spielerinnen und Spieler und führt sie durch eine eindeutige und wenig komplexe Welt, in der sie sich auskennt und in der sie die Macht hat. Laras exzessiv als weiblich ausgewiesener Körper hat eine Affinität mit den unerforschten, ›jungfräulichen‹ Räumen und erlaubt es ihr, sich darin optimal zu bewegen.[58] Sie lädt die Spielerinnen und Spieler dazu ein, die Welt und sie selbst mit Hilfe von Körper- und Maschinentechnologien zu erobern.

In ihrer typisierten Gestalt bietet sie sich als Identifikationsfigur und Fetisch für viele an und kann in der Werbung für ganz unterschiedliche Produkte eingesetzt werden. Sie besitzt inzwischen auch eine Bedeutung für diejenigen, die sich nie mit ihrer Bedienungsführung herumgeschlagen haben: als leibhaftiger Technologiefetisch und Cyborg.

Lara ist eine durch Maschinentechnologie und Ästhetik optimierte Frau und steht in der Tradition von Wonder Woman (1941) oder des Cyborgs Eve in Eve of Destruction (1991). Sie wird zwar nicht als Android eingeführt, doch erinnern ihre stilisierte Schönheit und ihre übermenschlichen Fähigkeiten in Verbindung damit, daß die Schwierigkeit, sie zu ›zähmen‹ und zu führen, thematisiert wird, an technologisch veränderte Körper von Villiers de L'Isle-Adams L'Eve future (1886) zu dem Roboter Maria in Langs Film Metropolis (1926). Thomas Foster beschreibt den Zusammenhang zwischen Maschinen- und Körpertechnologie in Texten wie Metropolis folgendermaßen:

In this representational framework, the analogy between technology and female sexuality confirms that both represent a threat to masculine power, while the conflation of the two in the form of the female robot allows for a specifically fetishistic disavowal of both threats. The question is whether this modernist framework is still capable of managing and displacing the anxieties produced in male subjects by what [the film critic Mary Ann] Doane calls the »horrible recognition of the compatibility of technology and desire.«[59]

Das Begehren schreibt sich allerdings mit Hilfe der Technologien nicht in feste körperliche Positionierungen ein, ein Punkt, der in zeitgenössischen Körperdiskursen intensiv und umstritten verhandelt wird.

N. Katherine Hayles warnt in The Seductions of Cyberspace: »As the body increasingly is constructed as a commodity to be managed, designed, and parceled out to deserving recipients, pressure builds to displace identity into entities that are more flexible, easier to design, less troublesome to maintain.«[60] Solche ›weicheren‹ Konzeptionen von Körperidentitäten können aber durchaus zu spannenden Widerstandsmodellen führen, innerhalb derer das selbstreflexive Spielen mit Identitäten und Begehren Platz hat. Unter diesen Vorzeichen läßt sich etwa die Gestalt Lara Crofts als ein ironischer Kommentar zur Fetischisierung des weiblichen Körpers einsetzen – wenn die Geschichte des Fetisch Maschinenfrau mit ins Bild rückt. Dann wird das Posieren als Fetisch zum strategischen Spiel, die Identifizierung mit der Position des technologischen Fetisch wird zur subversiven Gegenerzählung.

Wie Thomas Foster betont, liegen beide Lesarten von Körpern – die subjektstabilisierende und die ironische – in zeitgenössischen Texten ganz nah beieinander und sind im einzelnen gegeneinander abzuwägen. Im Zweifelsfall kommt es darauf an, wer den Text rezipiert.

4. WER GEWINNT? SPIEL UND MACHT

Das Spiel hat in den letzten Jahren eine deutliche Aufwertung erlebt. So schreibt etwa Florian Rötzer:

Das Spiel wurde bislang als ein System von Verhaltensweisen verstanden, das durch seinen Gegensatz zur Arbeit und zur Macht, also zu allem, was notwendig zu tun ist und was sich der Verfügung entzieht, definiert war. Gleichermaßen war alles, was ernst und wichtig zu sein schien, vom Spiel ausgenommen, da es durch spielerischen Umgang in seiner Bedeutung zersetzt würde.[61]

Konstruktivistische Theorien von Macht und Widerstand, von Zwang (oder ›Struktur‹) und Ermächtigung (oder Agency) gehen von Machtbeziehungen aus, die sich in einer Art von ›Spiel‹ ständig in die Praktiken des täglichen Lebens und in die Körper einschreiben.[62] Auch fiktionale Texte sind Teil dieser Praktiken, sie produzieren Körperbilder und stellen Regeln auf, nach denen Körper künstlerisch gerahmt und gelesen werden sollen. Der Markt autorisiert wiederum bestimmte Texte und Lesarten, andere nicht, so daß er an der Formierung historisch spezifischer Rezeptionsformen und Lesekompetenzen aktiv Anteil nimmt.

Demnach ist der virtuelle Raum kein körperloser Raum, sondern, wie auch Allucquere Rosanne Stone betont, nur eine von vielen Möglichkeiten, eine Beziehung zu (menschlichen) Körpern zu konzeptualisieren.[63] Das bedeutet aber auch, daß ›Körperspiele‹ immer ernstzunehmen sind. So insistiert etwa Jana Sawicki in ihrer Monographie Disciplining Foucault: Feminism, Power, and the Body auf einer widerständigen und kämpferischen feministischen Lesepraxis von Körpern und Diskursen – ganz im Sinne Foucaults, wie sie betont:

For Foucault, the metaphorical terrain of resistance is explicitly that of the ›battle‹; the ›points of confrontation‹ may be ›innumerable‹ and ›instable,‹ but they involve a serious, often deadly struggle of embodied (that is, historically situated and shaped) forces. [...] The metaphor of the body as battleground, rather than postmodern playground, captures [...] the practical difficulties involved in the political struggle to empower ›difference‹.[64]

Eine solche Interpretation von Foucault seitens feministisch oder ethnisch orientierter Leserinnen und Leser stellt das eigene Interesse in den Vordergrund und argumentiert von einer engagierten, voreingenommenen, politisch motivierten Positionierung aus. Der Gegensatz dazu ist eine wissenschaftliche oder theoretische Subjektposition, die einen unverbindlich-spielerischen Pluralismus befürwortet und widersprüchliche Stimmen einfach vereinnahmt. Joseba Gabilondo kommentiert solche Konzepte aus einer postkolonialen Perspektive als »[...] not the general, postmodern form of subjectivity created by multinational capitalism but rather the hegemonic subject position that its ideology privileges.«[65]

Einer solchen pluralistischen Auffassung läßt sich nur durch historisierende Diskurse begegnen. Homi Bhabha schreibt in The Location of Culture (1994): »The postcolonial perspective resists the attempt at holistic forms of social explanation. It forces a recognition of the more complex cultural and political boundaries that exist on the cusp of these often opposed political spheres.«[66] Bhabha und andere Kritikerinnen und Kritiker postmoderner Kultur- und Körperkonzepte bestehen deshalb auf einer interessegesteuerten, hybriden kulturellen Positionierung, das heißt, auf einer Positionierung, die sich durch eine spezifische Körpergeschichte auszeichnet.

Auch die Körpergeschichten im Cyberspace sind ganz konkrete, historisch situierte und situierbare Diskurse. Auch sie lassen sich danach befragen, welche Körperkonzepte sie präsentieren und wie sie Körper- und Maschinentechnologien einsetzen. Denn die Beziehungen zwischen Menschen und Computern sind in den letzten Jahren nicht einfacher geworden, wie Bill Gates mit seinem Versprechen von ›information at your fingertips‹ glauben machen wollte, sondern komplexer. Das Bild der körperlichen Interaktion bringt alle Komplikationen mit sich, die Körper und Interaktionen für die Philosophie, die Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften und die Menschen überhaupt schon immer besessen haben. Dieses Modell der Interaktion erfordert gemäß Vicki Kirby eine ganz andere Fragestellung:

Another mode of engagement with cyberspace technologies might query their description as altogether new, potential, promising, fantastic, or illusory. For surely the divisions of culture and nature, and mind and body, are already conceptualized in terms of technology. The mind/body division presumes supplementation, articulation, interfacing, and progress, such that the body is figured as a tool or as an instrument of the mind. Given this larger context, we might consider the bodying forth of the virtual as a rearticulation of matter – indeed, the matter of rearticulation.[67]

Randi Gunzenhäuser (München)

Dr. Randi Gunzenhäuser
Amerika-Institut
Abteilung Literaturgeschichte
Schellingstr. 3 VG
80799 München.


[1] Peter Gabriel: EVE. The Music and Art Adventure. Bath, Avon: Real World 1996.

[2] Eidos Interactive: Tomb Raider I. London, San Francisco: Eidos Interactive 1996; Tomb Raider II und III 1998.

[3] Diese Überlegungen sind Teil meines Habilitationsprojektes zum Bild des Maschinenmenschen, in dem ich US-amerikanische Körperkonzepte des 19. und des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Medien miteinander in Beziehung setze.

[4] Alec McHoul/Wendy Grace: A Foucault Primer. Discourse, Power and the Subject. New York: New York University Press 1997, S. 74.

[5] Donald M. Lowe: The Body in Late-Capitalist USA. Durham, London: Duke University Press 1995.

[6] Die Wissenschaftssoziologin Sherry Turkle ist eine der bekanntesten Vertreterinnen dieser These, wie etwa in ihrer Monographie Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet, New York: Simon & Schuster 1995, nachzulesen ist, in dem sie von Selbstinszenierungen im Netz als »identity workshops« spricht.

[7] Marie-Laure Ryan faßt in ihrer Einleitung zu dem Sammelband: Cyberspace Textuality. Computer Technology and Literary Theory, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1999, die Vielzahl zu Gruppierungen zusammen, die mir sinnvoll erscheinen. Sie versieht die einzelnen Sparten mit den Zwischenüberschriften »The Computer as (Co-)Author«, »The Computer as Medium of Transmission« und »The Computer as Theater« und setzt somit den Computer in bezug zu seinen Benutzerinnen und Benutzern. Computerspiele finden sich in der letztgenannten Kategorie, zu der Ryan schreibt: »Here the text cannot be divorced from the electronic environment, because it exploits some of the specific features of its hardware and software support« (S. 6).

[8] Mark Poster ist ein prominenter Kritiker poststrukturalistischer Verallgemeinerungen zu den digitalen Medien (siehe etwa The Second Media Age, New York: Blackwell 1995), auf dem Gebiet der African-American Studies wäre Thomas Foster zu nennen (zum Beispiel: The Souls of Cyber-Folk. Performativity, Virtual Embodiment, and Racial Histories, in: Marie-Laure Ryan (Hg.): Cyberspace Textuality. Computer Technology and Literary Theory, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1999, S. 137-163), seitens der genderorientierten Kritikerinnen und Kritiker hat sich unter anderem N. Katherine Hayles hervorgetan (How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago, London: University of Chicago Press 1999), aber auch Allucquere Rosanne Stone hat auf diesem Gebiet vielfach veröffentlicht (siehe etwa The War of Desire and Technology at the Close of the Mechanical Age, Cambridge, MA: MIT Press 1995).

[9] Gerade bei medienvergleichenden Ansätzen bietet es sich an, konkrete Texte zu analysieren; allerdings sind solche Beiträge besonders schwer zu fokussieren. Siehe Randi Gunzenhäuser: All plots lead toward death. Memory, History, and the Assassination of John F. Kennedy. In: Amerikastudien 43, 1 (1998), S. 75-91.

[10] So schreibt Mark Dery, der Herausgeber von Flame Wars. The Discourse of Cyberculture, Durham, London: Duke University Press 1993: »[A] technologically enabled, postmulticultural vision of identity [is] disengaged from gender, ethnicity, and other problematic constructions« (S. 560). Meist gehen solche Formulierungen wie hier von Konstellationen im Online-Diskurs aus, weiten ihre Feststellungen dann aber auf digitale Texte im allgemeinen aus.

[11] Marie-Laure Ryan: Cyberspace Textuality. Computer Technology and Literary Theory, S. 10 (Fußnote 7).

[12] Paul Zelevansky: Attention SPAM®. In: SubStance 82 (1997), S. 135-159, S. 135.

[13] Vicki Kirby: Telling Flesh. The Substance of the Corporeal. New York, London: Routledge 1997, S. 136f.

[14] CD-ROM ist die Abkürzung für Compact Disk Read Only Memory. Wie auf Musik-CDs lassen sich die Daten auf diesen Datenträgern nicht verändern oder vervollständigen. Der Vorteil der CD-ROM liegt in der großen Speicherkapazität, die komplexe und flexible, also vielfältige Textanordnungen ermöglicht.

[15] Johanna Drucker: The Self-Conscious Codex. Artists' Books and Electronic Media. In: SubStance 82 (1997), S. 93-112, S. 96.

[16] Bereits das Begleitheft zur Musik-CD US enthält zum Beispiel nicht nur den Text zu jedem Titel, sondern auch ein Bild pro Lied, gestaltet von Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. Die Künstlerinnen und Künstler stammen laut Bilduntertitel aus Schottland, Irland, Israel, Äthiopien, England, Evrugo [Wherever you go], den USA, Kamerun und Deutschland (Peter Gabriel: US. Bath, Avon: Real World 1992). Einige Musiksequenzen aus der CD US finden sich auch auf der Spiele-CD-ROM EVE.

[17] Mind Benders war ein Projekt, in dem Peter Gabriel mit dem Konzept des Motion Simulator Pod experimentierte. Diese mobile Installation tourte Anfang der 1990er Jahre durch die Vereinigten Staaten. Mit Hilfe einer Bewegungsplattform erlaubte sie es, in den virtuellen Raum eines Gabriel-Videos ›einzutreten‹ und etwa Beschleunigungs- oder Abbremsbewegungen körperlich zu spüren.

[18] Es handelt sich hierbei um Bücher von Künstlerinnen und Künstlern, welche die materiellen Eigenschaften des Mediums Buch in den Vordergrund stellen und durch eine selbstreferentielle Ästhetik zelebrieren. Zu dieser Gattung siehe Johanna Drucker: A Century of Artists' Books, New York: Granary Books 1995; und das Heft 82 der Zeitschrift SubStance (1997) mit dem Titel Metamorphoses of the Book.

[19] Zum Begriff der ›Autorfunktion‹ siehe Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: M. F.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M.: Ullstein 1979, S. 7-31, besonders S. 18f.

[20] Der Weg in einem Hypertext kann während einer Sitzung über eine Rückschrittstaste ein Stück weit zurückverfolgt werden. Mittlerweile existieren Programme, mit denen die Bewegungen von Nutzerinnen und Nutzern innerhalb von Hypertexten protokolliert und überwacht werden können. Mit diesen Programmen lassen sich auch »Landkarten« einer Hypertext-Umgebung erstellen.

[21] »A significant difference between information and durable goods is replicability. Information is not a conserved quantity. If I give you information, you have it and I do too. With information, the constraining factor separating the haves from the have-nots is not so much possession as access«. N. Katherine Hayles: Virtual Bodies and Flickering Signifiers. In: Timothy Druckrey (Hg.): Electronic Culture. Technology and Visual Representation. Denville, NJ: Aperture 1996, S. 270.

[22] Zum Begriff des ›Virtuellen‹ siehe die Beiträge in dem von Florian Rötzer und Peter Weibel herausgegebenen Band Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, München: Boer 1993. Die Autoren des Bandes heben darauf ab, daß die Idee des Virtuellen wichtiger sei als seine konkrete technische Umsetzung. Ich meine, daß es nötig ist, virtuelle ›Maschinen‹ im einzelnen auf ihre Wirkungsweise hin zu analysieren.

[23] Die Bandbreite der Definitionen reicht von einer ›weiten‹ Auslegung von George P. Landow (alle digital gespeicherten Texte) zu einer ›engen‹ bei Norbert Gabriel (nur multimediale Texte). Siehe George P. Landow: Hypertext. The Convergence of Critical Theory and Technology. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1992; und Norbert Gabriel: Kulturwissenschaften und Neue Medien. Wissensvermittlung im digitalen Zeitalter. Darmstadt: Primus 1997.

[24] Siehe zum Beispiel Hartmut Winkler: Docuverse: Zur Medientheorie der Computer. München: Boer 1997, vor allem das erste Kapitel, »Die Metapher des ›Netzes‹ und das Modell der Sprache« (S. 14-53). Winkler macht auch darauf aufmerksam, daß der alleinige Vergleich digitaler Medien mit dem Buch unter Umgehung der Bild- und Tonmedien zu kurz greift.

[25] Eine Avatar-Figur ist die grafische Darstellung einer meist menschlichen Gestalt auf dem Bildschirm, welche die Benutzerinnen und Benutzer auf dem Monitor, also im Spiel repräsentiert. So schlüpfen Anwenderinnen und Anwender im Computerspielklassiker King's Quest von Sierra in die Gestalt eines Helden (in späteren Versionen auch in die einer Heldin), beweisen sich beim Gameboy von Nintendo als Super Mario oder können in einem Rollenspiel wie Pizza Connection zwischen männlichen oder weiblichen Figuren wählen.

[26] Paul Zelevansky: Attention SPAM®. (Fußnote 12).

[27] Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 20.

[28] Paul Zelevansky: Attention SPAM®, S. 137 (Fußnote 12).

[29] Elena Filipovic: Abwesende Kunstobjekte. Mannequins und die Exposition Internationale du Surréalisme von 1938. Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora (Hg.): Katalog zur Ausstellung Puppen – Körper – Automate. Phantasmen der Moderne. Düsseldorf: Oktagon 1999, S. 200-218, S. 200.

[30] Siehe dazu Fredric Jameson: Postmodernism and Consumer Society. Hal Foster (Hg.): The Anti-Aesthetic. Essays on Postmodern Culture. Port Townsend: Bay Press 1983, S. 111-125, besonders S. 113f.

[31] Judith Butler: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of »Sex«. New York, London: Routledge 1993, S. 17.

[32] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 197.

[33] Johanna Drucker: The Self-Conscious Codex, S. 98f. (Fußnote 15).

[34] Ein solches Zitat des traditionellen Mediums kann auch ironisierend gebraucht werden, etwa die TV-Fernbedienung in verschiedenen frühen Computerspielen wie in der ersten Folge von Sierras Leisure-Suit Larry. In EVE finde ich keine Hinweise auf einen solchen Gebrauch.

[35] Forbes meldete am 12. Januar 1998, daß Tomb Raider seit seiner Markteinführung bereits drei Millionen mal verkauft worden sei und fährt fort: »Two weeks after Tomb Raider II hit the market last November, Eidos shares on the London Stock Exchange had risen almost 20%« (S. 39).

[36] Zum Beispiel im Video zum Lied Männer sind Schweine von der deutschen Gruppe Die Ärzte.

[37] So die Besprechung Tomb Raider III. The Adventures of Lara Croft. In: PowerPlay 11 (1998), S. 50.

[38] Ebd., S. 50.

[39] Erst ab der Folge II hat Lara auch menschliche Gegner, in der ersten Folge waren es nur Tiere.

[40] Stephen Poole: Play It Again, Lara. In: Computer Life 5,3 (März 1998), S. 79.

[41] Siehe zum Beispiel Steve Smiths Ausführungen zu Tomb Raider II in Tigers and Snowmen and Thugs, oh my!, in: Computer Life 5, 4 (April 1998), S. 110: »Completion of the Floating Islands level requires a midair about-face while leaping from one climbing wall to an opposite one. Practice this key combination in a safe area first: While holding on to one wall with the Ctrl key, jump backward (Alt-down arrow), then immediately hit the up arrow key to perform the twist. Finally, hold down the Ctrl key to grab the opposing wall.« – Versuchen Sie's! Jake Blackford schreibt zur zweiten Folge: »Because there's more fast-paced action in this sequel, the controls seem more awkward than they did in the original, especially when there are multiple bad guys.« (Jake Blackford: Tomb Raider II. In: Computer Shopper 18, 5 (Mai 1998), S. 249).

[42] Siehe etwa Stephen Poole: Play It Again, Lara. (Fußnote 40) und Ron White: Girl Power. In: PC/Computing 10, 11 (November 1997), S. 206f.

[43] Clark N. Quinn: Die Kunst, Spiele für die Wissenschaft zu gestalten. In: Florian Rötzer (Hg.): Schöne neue Welten? Auf dem Weg zu einer neuen Spielkultur. München: Boer 1995, S. 253-262, S. 259.

[44] Katherine Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics (Fußnote 8); Vicki Kirby: Telling Flesh. The Substance of the Corporeal (Fußnote 13).

[45] Siehe zum Beispiel Sherry Turkle: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet (Fußnote 6); und Katherine Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics (Fußnote 8).

[46] Florian Rötzer: Aspekte der Spielkultur in der Informationsgesellschaft. In: Wolfgang Zacharias (Hg.): Interaktiv: Im Labyrinth der Wirklichkeiten. Über Multimedia, Kindheit und Bildung. Über reale und virtuelle Interaktion und Welten. Essen: Klartext Verlag 1996, S. 178.

[47] Siehe etwa Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. S. 331-338 (Fußnote 24) [vor allem S. 11f. und das Schlußkapitel »Strategie im Reich der Wünsche«].

[48] 3D-Animation in Spielen wurde unter anderem deshalb möglich, weil auch im privaten Bereich immer leistungsfähigere Hardware preisgünstig zur Verfügung stand.

[49] Jamie M. Bsales. In: PC Magazine 17, 14 (Juli 1998), S. 164.

[50] Wobei beide Folgen noch immer einige Programmierfehler aufweisen, die dazu führen, daß Lara zum Beispiel plötzlich hinter Gegenständen verschwindet, obwohl sie eigentlich vor ihnen steht, oder daß die Perspektive sich abrupt verändert.

[51] Siehe Donna Cocos Beschreibung der Mitarbeit verschiedener Animationsspezialisten bei der Programmierung der Spiele Tomb Raider und Blade Runner in dem Aufsatz Creating Humans for Games, in: Computer Graphics World 20, 10 (Oktober 1997), S. 26-31.

[52] Sherry Turkle: Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet, S. 60f. (Fußnote 6).

[53] Zitiert von Maurice Horn: Women in the Comics. In: New York, London: Chelsea House Publishers 1980, S. 130.

[54] Scott Bukatman: X-Bodies (the torment of the mutant superhero). In: Rodney Sappington und Tyler Stallings (Hg.): Uncontrollable Bodies. Testimonies of Identity and Culture. Seattle, WA: Bay Press 1996, S. 93-129, S. 112.

[55] Ein Beispiel für ein feministisch-kämpferisches Ideal der ›eindeutigen‹, phallischen Frau ist die lesbische Comicfigur Hothead Paisan von Diane DiMassa, im Untertitel Homicidal Lesbian Terrorist genannt. Die muskulöse Hothead Paisan zieht, mit Gewehr, Axt, Riesenschere und scharfen Messern bewaffnet und von Rache getrieben, männermordend gegen Frauen- und Lesbenfeindlichkeit ins Feld. Auch sie hat einen gepanzerten Körper, dem aber die primären weiblichen Geschlechtsmerkmale augenscheinlich abhanden gekommen sind – mit ihnen hat Hothead die weibliche Verschlagenheit abgelegt. Sie treibt eine radikale männerfeindliche und pro-lesbische Politik auf die Spitze. Sarah Schulman nennt Hothead Paisan »the bible of man-hating ball busters driven over the edge of insanity into our own state where anarchy reigns and no man is safe to walk the streets« (Sarah Schulman: Praise for Hothead Paisan. In: Diane DiMassa: Hothead Paisan. Homicidal Lesbian Terrorist. Pittsburgh, San Francisco: Cleis Press, 1993., S. 1).

[56] So die Kunsthistorikerin Wendy Steiner in einem bisher unveröffentlichten Vortrag bei der Tagung zur 50-Jahr-Feier des Amerika-Institutes der LMU am 17.06.1999 mit dem Titel The Image of the Beautiful.

[57] Lara kann unter verschiedenen Internet-Adressen auch nackt bewundert werden. Ihrer prüden Haltung verdankt sie sowohl ihre Popularität als Spielfigur wie auch als Pin Up.

[58] So ist es gerade Laras Weiblichkeit, die ihr in den oft als ›weiblich‹ ausgewiesenen engen, verschlungenen, höhlenartigen Räumen einen Vorteil gegenüber ihren männlichen Gegnern verschafft. Ein ähnliches Phänomen beschreibt die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway. Sie weist darauf hin, daß Frauen, die als Wissenschaftlerinnen arbeiten, in westlichen Kulturen oft eine Position zwischen dem Wilden, Natürlichen, Ursprünglichen und dem Zivilisierten zugewiesen wird. Sie werden immer wieder als Vermittlerinnen zwischen der primitiven, unzivilisierten, bedrohlichen Vergangenheit und der aufgeklärten, rationalen Gegenwart dargestellt. (Siehe etwa Donna Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York, London: Routledge 1991.)

[59] Foster: The Sex Appeal of the Inorganic: Posthuman Narratives and the Construction of Desire. In: Robert Newman (Hg.): Centurie' Ends, Narrative Means. Stanford, CA: Stanford University Press, 1996, S. 276-301, S. 289f.

[60] N. Katherine Hayles: The Seductions of Cyberspace. In: Verena Andermatt Conley (Hg.): Rethinking Technology. Minneapolis: University of Minnesota Press 1993, S. 182.

[61] Florian Rötzer: Konturen der ludischen Gesellschaft im Computerzeitalter. In: Ders. (Hg.): Schöne neue Welten? Auf dem Weg zu einer neuen Spielkultur. München: Boer 1995, S. 171-216, S. 178.

[62] Unter vielen anderen hat die Kulturphilosophin Elizabeth Grosz ausgiebig zum Thema der Körpereinschreibungen gearbeitet. Siehe Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1994.

[63] Allucquère Rosanne Stone: Split Subjects, not Atoms; or, How I Fell in Love with My Prosthetis. In: Configurations 2 (Winter 1994), S. 182 (Fußnote 9).

[64] Jana Sawicki: Disciplining Foucault. Feminism, Power, and the Body. New York, London: Routledge 1991, S. 46f.

[65] Joseba Gabilondo: Postcolonial Cyborgs. Subjectivity in the Age of Cybernetic Reproduction. In: Chris Hables Gray (Hg.): The Cyborg Handbook. New York, London: Routledge 1995, S. 423-432, S. 424.

[66] Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London, New York: Routledge 1994, S. 173.

[67] Vicky Kirby: Telling Flesh. The Substance of the Corporeal, S. 148 (Fußnote 13).