Im einen und im andern Land

 

Von Erich Hackl (Spectrum) 18.03.2006

 

Über Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien, darüber, wie weit sie in die Gegenwart reichen und ob es in Österreich anders ist.
 
Im Jänner 2006 vergeht kein Tag, an dem das Archiv des Bürgerkriegs nicht Spaniens Öffentlichkeit beschäftigt. |(c)AP

In "Aquel invierno", einer Erzäh lung des spanischen Schriftstel lers und Journalisten Alfons Cervera über Widerstand und Verfolgung, findet sich das Protokoll einer Begegnung zwischen dem Ich-Erzähler, unter dem wir uns den Verfasser vorstellen dürfen, und einem Mädchen in Los Yesares, einer Ortschaft nahe Valencia: "Sie heißt Elena und ist 17 Jahre alt. Sie hat gerade das letzte Buch von Paulo Coelho gelesen und sagt, dass sie bei den Gemeinderatswahlen des Jahres 2007, den ersten, bei denen sie wählen darf, ihre Stimme der Sozialistischen Partei geben wird. Als ich sage, dass ich gern auf Band aufnehmen möchte, was sie von den Kriegs- und Nachkriegsjahren in Los Yesares weiß, spielt sie mit den Trägern des Büstenhalters und dem weiten Kragen des Wollpullis, schaut mich kurz an, lächelt verwundert, bittet die Kellnerin um eine Papierserviette und einen Kugelschreiber, schreibt was auf die Serviette und schiebt sie mir zu. Ich weiß, was mir meine Eltern und meine Großeltern erzählt haben. Nichts. ,Du brauchst keine Kassette zu verschwenden', sagt sie. Dann geht sie zum Tisch zurück, an dem ihre Freunde Bier und Coca-Cola trinken. Ehe sie sich hinsetzt, schaut sie noch einmal zu mir herüber, hebt die Schultern und bewegt die Lippen, als wollte sie sagen, tut mir leid."

Was treibt den Autor zu dieser Anekdote? Begreift er sie als Einzel-fall oder als Zeiterscheinung? Droht ein Missverständnis, wenn ich das Buch nicht zu Ende lese? - Die Erzählung schließt, 50 Seiten nach der zitierten Stelle, mit einer Zueignung: "Zur Erinnerung an Gerardo Torres García und Vicente Corachán Carrasco, republikanische Lehrer in Gestalgar, die den Säuberungen der Franco-Diktatur zum Opfer fielen. Und für alle, die es möglich gemacht haben, dass seit August 2004 in meinem Geburtsort zwei kleine Plätze nach ihnen benannt sind. - Und in Cheste, einem Dorf der Region Valencia, das ich wie mein eigenes liebe, gibt es seit Sonntag, dem 28. November 2004, eine Straße mit den Namen von Rafael Huercio (alias Ovejero), dem letzten Bürgermeister der Republik, der 1981 im Exil starb, und Ángel Tarín Haro (El pirata), ei- nem jungen Anarchisten, der von den Frankisten 1941 erschossen wurde, als er gerade 21 Jahre alt geworden war. Es gibt auch, seit jenem Sonntag, einen Dorfplatz, der ,Platz der Zweiten Republik' heißt."

Und diese Notiz, hebt sie auf, was zuvor mitgeteilt wurde?

Zehn Tage bevor ich Cerveras Buch zur Hand nehme, sitze ich auf Lanzarote in einer Art Internetcafé (eigentlich eine Spielhölle für britische Touristen) und lese die an mich gerichteten Mails. Unter ihnen die Einladung, an der Jahresversammlung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes über den Spanischen Bürgerkrieg zu sprechen, dessen Beginn sich heuer zum 70. Mal jährt. Vielleicht, denke ich, lohnte es sich, dabei der Frage nachzugehen, wie und in welchem Ausmaß dieser Krieg und seine Folgen die Gegenwart prägen. Auf dem Weg vom und zum Laden mit seinen virtuellen Kampfmaschinen und überhaupt auf den Fahrten und Wanderungen auf der Insel ha- be ich immer wieder folgende Straßenschilder gesehen: Calle de Francisco Franco, Calle de José Antonio Primo de Rivera, Calle del 18 de Julio, Calle del 1 de Abril. (Primo de Rivera war der Gründer der Falange, der 18. Juli 1936 der Tag des Militärschlags gegen die demokratisch gewählte Regierung der Republik, und jeden 1. April hat das Regime, von 1939 an 37 Jahre hindurch, den Sieg im "Kreuzzug gegen die marxistische Verschwörung" gefeiert.) Aber warum sind diese Schilder nicht beschmiert oder längst abmontiert, wie anderswo in Spanien?

In Madrid, am 17. Februar, lese ich in der Zeitung folgende Schlagzeile: "Das Geheimnis, das er nicht mit ins Grab nehmen wollte". Der Bericht handelt von einem Rekruten des spanischen Kavallerieregiments von Alcalá de Henares, der am 1. Juli 1941, also zwei Jahre nach Ende des Bürgerkriegs, in der Nähe von Fontanosas (Provinz Ciudad Real) an der Erschießung von sieben Personen teilnahm, die wegen angeblicher oder erwiesener Kollaboration mit Widerstandskämpfern des Maquis festgenommen worden waren. Einer der Erschossenen war erst 15 Jahre alt. Die Leichen wurden an Ort und Stelle verscharrt, einige verkehrt herum, mit dem Gesicht nach unten, zur Strafe dafür, dass sie zu Lebzeiten nicht an Gott geglaubt hatten. Über 62 Jahre war die Angst stärker als das Gewissen: Erst im April 2004 wagte es der ehemalige Rekrut, in einem anonymen Brief an den Bürgermeister von Fontanosas, das Geschehen mitzuteilen. Er beschrieb die Stelle, an der sich das Massengrab befand, damit "die Leichen von ihren jeweiligen Angehörigen ausgegraben und würdig bestattet werden können". Die sterblichen Überreste wurden nun aufgrund seiner genauen Angaben gefunden, die DNA-Analysen sind noch ausständig. Der Verfasser des Artikels, Carlos E. Cué, legt Wert auf die Feststellung, dass während der Grabungsarbeiten keinen Moment lang Rachegelüste laut wurden. "Alle Beteiligten wollen den anonymen Schreiber ausfindig machen, um ihm zu sagen, dass ihm keiner was nachträgt, jedermann nur dankbar ist und dass diese Tragödie endlich einen Schlusspunkt gefunden hat."

Was beweist der Brief, was die Tatsache, dass sein Verfasser unbekannt bleiben wollte, was die Beteuerung, dass niemand Rache fordert? Wieso kommt das Wort Sühne nicht vor? Und andererseits, warum dauert es so ungewöhnlich lange, bis die Leichen eindeutig, das heißt mit wissenschaftlichen Methoden identifiziert sind?

Die Erklärung liefert mir, am 22. Februar, der österreichische Filmemacher Günter Schwaiger, der seit langem in Madrid lebt. Schwaiger arbeitet in der Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica mit, der Vereinigung zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses, in der sich Angehörige von Vermissten der frankistischen Repression mit Historikern, Archäologen und Laien zusammengetan haben, die sich mit den nie geahndeten Verbrechen der Diktatur beschäftigen. Die Organisation existiert seit fünf Jahren, sie hat bisher 70 Massengräber geöffnet und 430 weitere einwandfrei lokalisiert. Die Schätzungen gehen in die Tausende. Von Zuwendungen baskischer, katalanischer und andalusischer Stellen abgesehen, ist die Vereinigung nie mit öffentlichen Geldern unterstützt worden; ihre Mitglieder arbeiten ehrenamtlich, die DNA-Analysen, die einigermaßen kostspielig sind, müssen sie aus eigener Tasche bezahlen, und wenn kein Geld da ist, verzögern sich eben die Ermittlungen. Vor kurzem hat die sozialistische Regierung endlich Förderungsmittel für alle Projekte bereitgestellt, die sich in irgendeiner Weise mit dem beschäftigen, was auf Deutsch Vergangenheitsbewältigung heißt und in Spanien mit recuperación de la memoria histórica gemeint ist. Dafür sind insgesamt nur zwei Millionen Euro vorgesehen. Zur ersten Unterredung mit den diversen Opferverbänden hatte die Regierungskommission Vertreter von vier falangistischen Parteien eingeladen, mit dem Argument, dass auch auf republikanischer Seite außergesetzliche Hinrichtungen stattfanden und die davon Betroffenen ebenfalls Anspruch auf die memoria histórica verdienten. Allerdings hatte der frankistische Staat diesen bereits in einem Dekret vom 2. Oktober 1939 Rechtsanspruch zugestanden. Das erlaubte den Hinterbliebenen, die Leichen zu bergen und auf einem Friedhof zu bestatten, und sie selbst wurden für den erlittenen Verlust finanziell oder mittels Versorgungsposten entschädigt.

Ist der Sachverhalt vergessen? Oder glaubt die Regierung, dass sie die rechte Opposition ruhigstellen kann, wenn sie deren Privilegien verdoppelt? Wäre diese Absicht als Kalkül zu bezeichnen, oder als Illusion?

Ebenfalls am 22. Februar widmet die auflagenstärkste und angesehenste Zeitung des Landes, "El País", einen von zwei Leitartikeln dem Wiener Prozess gegen den Holocaust-Leugner David Irving. Das Blatt gehört Prisa, dem größten Medienkonzern des Landes, und verheimlicht nicht seine Nähe zur Sozialistischen Partei, der das Unternehmen, während der Regierungszeit von Felipe González, seinen rasanten Aufstieg verdankt. Andererseits hat Prisa mitgeholfen, dass die moderate Politik der spanischen Sozialisten wirkungsmächtig werden konnte. "El País" zitiert einen ungenannten Philosophen, der geschrieben haben soll, dass Bücher mit Büchern, nicht mit Gesetzen zu bekämpfen seien, und kritisiert das Urteil "in Augenblicken, in denen die Meinungsfreiheit wegen der Karikaturen Mohammeds und diverser restriktiver Gesetze in Frage gestellt wird". In Wien seien Haltungen und Meinungen, nicht kriminelles Verhalten bestraft worden. Im ungezeichneten Kommentar wird das österreichische Verbotsgesetz mit der "finsteren Vergangenheit" des Landes in Verbindung gebracht. Auch das spanische Gesetzbuch beziehe sich, in Paragraf 607, Absatz 2, auf das Leugnen oder Rechtfertigen von "Delikten" des Völkermords, "das heißt, nicht von historischen Tatsachen, sondern vor Gerichten erwiesenen Verbrechen". Für die Anstiftung zu Hass, Diskriminierung und Gewalt aus rassistischen, antisemitischen und anderen Motiven gebe es außerdem den Paragrafen 510. "Aber es ist nicht zulässig zu behaupten, dass die Bestrafung des Leugnens der historischen Wahrheit eine juristische Grundlage habe."

Warum stellt der Verfasser des Leitartikels keinen Zusammenhang her zwischen dem Gerichtsurteil in Österreich und der Straffreiheit für die frankistischen Verbrechen von 1936 bis 1976, die den Tatbestand des Völkermords sowie der Anstiftung zu Hass, zu Diskriminierung und zu Gewalt erfüllten? Ein Leserbrief vom 17. Jänner fällt mir in die Hände, in dem Álex Superviel Sánchez aus Brest in derselben Zeitung den Sieg von Michelle Bachelet, bei den chilenischen Präsidentschaftswahlen, begrüßt hat. "Ich hoffe, dass Spanien etwas von den Chilenen lernt, weil es überhaupt nicht schlecht wäre, eine Frau zur Präsidentin zu haben, und dass unsere Politiker das Francoregime als das verurteilten, was es in Wirklichkeit war, nämlich eine Militärdiktatur."

Am 25. Februar findet im Barrio de Salamanca, dem bürgerlichen Viertel Madrids, eine Kundgebung statt, bei der an die 200.000 Demonstranten vom spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero verlangen, mit der baskischen Untergrundorganisation ETA nicht über ein Friedensabkommen zu verhandeln. Zur Demonstration hat die Asociación de Víctimas del Terrorismo aufgerufen, die Vereinigung der Opfer des Terrorismus, aber es sind weniger die Überlebenden von Anschlägen und die Angehörigen von Ermordeten, die den Ablauf der Veranstaltung bestimmen, eher die Führer, Funktionäre und Sympathisanten der konservativen Volkspartei und anderer rechter Gruppierungen. Die Kundgebung ist die dritte gegen baskischen Sezessionismus und die fünfte mit Massenbeteiligung binnen eines Jahres. An den beiden anderen hatte sich auch die spanische Bischofskonferenz beteiligt, sie richteten sich gegen die Bestimmung, dass die vom Staat finanzierten Privatschulen ihre Schüler sich nicht länger aussuchen dürfen, und gegen das Gesetz, das die Eheschließung homosexueller Paare ermöglicht. Und am 6. Jän- ner gab der Oberbefehlshaber der Armee, General José Mena Aguado, in einer Rede zu verstehen, dass durch die Reform des katalanischen Autonomiestatuts die Einheit Spaniens gefährdet und die Streitkräfte gezwungen sein könnten diese zu verteidigen.

Warum ist es nicht mehr die Linke, die ihre Forderungen auf der Straße vertritt? Hat sich das Land normalisiert oder politisch gar umgedreht? Lässt sich sagen, dass die Herrschenden ernsthaft ihre Privilegien bedroht sehen, oder wollen sie es erst gar nicht so weit kommen lassen? Ähneln ihre Kundgebungen den Mobilisierungen der Allianz von Bürgertum, Kirche und Militär, die vor 70 Jahren gegen die Republik konspiriert hatten? Bei der Demonstration vom 25. Februar werden spanische Fahnen geschwungen und Losungen skandiert. Eine, die besonders viel Zustimmung findet, lautet: ¡Zapatero, vete con tu abuelo! Zapatero, hau ab zu deinem Großvater! Dieser war, als regierungstreu-er Offizier, 1936 von Frankisten erschossen worden.

Am 11. Februar lese ich ein Interview mit Luis Goytisolo, dem jüngsten von drei bedeutenden Schriftstellerbrüdern. Goytisolo war in den Fünfzigerjahren im kommunistischen Widerstand gegen das Francoregime aktiv und steht seit langem der Sozialistischen Partei nahe. Er sagt, man müsse die Toten des Bürgerkriegs "in Frieden ruhen" lassen. Die Massengräber sollten nicht geöffnet werden, andernfalls "würden sehr viele Leute vieler Tendenzen angespritzt" werden (mit Blut oder Dreck, ist offenbar gemeint). In ei- nem Leserbrief, eine Woche später, verwahrt sich Santiago Macías, der Vizepräsident der Vereinigung zur Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses, gegen Goytisolos Äußerungen. "Die Toten", schreibt er, "ruhen nicht, und deshalb kann ihre Ruhe auch nicht gestört werden. Aber sie haben einige Rechte, und eins der wichtigsten ist das Recht auf die eigene Identität und auf eine würdige Beisetzung." Es seien die Lebenden, die endlich Frieden haben sollten, die Kinder von tausenden republikanischen Vermissten, die in der Ungewissheit, wo die sterblichen Überreste ihrer Väter und Mütter liegen, immer noch die Konsequenzen des Bürgerkriegs erlitten. Besonders skandalös findet Macías Goytisolos Warnung vor den Exhumierungen und ihren möglichen Folgen. "Was würde Herr Goytisolo denken, wenn die Richter heutzutage Straftaten nicht ahndeten, weil dadurch Personen vieler Tendenzen ,angespritzt' wären?"

Wer vertritt hier die öffentliche Meinung, der Interviewte oder der Leserbriefschreiber? Ist es wichtig zu wissen, dass der eine 70, der andere 33 Jahre alt ist? Oder ist die Tatsache bedeutsamer, dass Goytisolo seine Meinung auf einer ganzen Zeitungssei-te ausbreiten darf, während Macías auf
den knappen Raum der Leserbriefspalte beschränkt ist?

Im Jänner dieses Jahres vergeht kein Tag, an dem das Archivo General de la Guerra Civil nicht die spanische Öffentlichkeit beschäftigt. Dieses Generalarchiv des Spanischen Bürgerkriegs, mit Sitz in Salamanca, existiert unter wechselnden Namen seit dem Jahr 1938, und zwar aufgrund einer Verfügung des Francoregimes, derzufolge alle Dokumente von Parteien, Gewerkschaften, Ämtern, Funktionären und Parteigängern "roter" und sonstiger antifrankistischer Organisationen auf ehemals republikanischem Gebiet zu beschlagnahmen und zentral zu verwahren sei-en. Diese Papiere dienten in der Folge, und bis in die Sechzigerjahre hinein, den Gerichten (darunter dem Sondertribunal zur Verfolgung marxistischer und freimaurerischer Umtriebe) als Beweismaterial bei der Verfolgung und Verurteilung abertausender Bürger. Schon vor Jahren hatte die Generalitat, die katalanische Autonomieregierung, die Rückstellung des Aktenbestands gefordert, der ihr im Februar 1939, nach der Einnahme Barcelonas, geraubt worden war. Nachdem die konservative Regierung unter José María Aznar eine Entscheidung darüber verschleppt hatte, entschied eine von der sozialistischen Kulturministerin Carmen Calvo eingesetzte Kommission im Dezember 2004, dass das Begehren der Generalitat "gerecht und legitim" sei, und im April des Vorjahres stimmte der Ministerrat Calvos Vorschlag zu, die entsprechenden Akten im Original nach Katalonien zu überführen, beglaubigte Kopien im Archiv zu belassen und dieses überdies in ein nicht näher bestimmtes "Dokumentationszentrum des historischen Gedächtnisses" umzuwandeln. Der Antrag wurde Anfang November vom Parlament, gegen die Stimmen der rechten Abgeordneten, verabschiedet. Seit damals haben der Bürgermeister von Salamanca, nationale Spitzenpolitiker der Volkspartei, der Radiosender "Cope" der Bischofskonferenz und die rechtsgerichteten Tageszeitungen "ABC", "El Mundo" und "La Razón" unablässig gegen diese Entscheidung protestiert.

Im Morgengrauen des 19. Jänner werden 500 Kisten mit den Dokumenten der Generalitat unter starkem Polizeischutz aus dem Archiv geschafft und nach Madrid, ins Gebäude des Kulturministeriums, gebracht, wo ihr Weitertransport nach Barcelona durch eine einstweilige Verfügung des Oberlandesgerichts gestoppt wird. Am 26. Jänner bestätigt der Siebte Gerichtssenat nach langen Debatten, dass die Rückgabe der Dokumente rechtsgültig sei. Vier Tage später werden sie ohne vorherige Ankündigung, nachts, in zwei Lieferwagen ohne Aufschrift, an die Generalitat überstellt. Der Bürgermeister von Salamanca informiert daraufhin die Medien von seinem Vorhaben, die Straße, in der sich das Generalarchiv befindet, umzubenennen: von Calle Gibraltar in Calle del Expolio, Straße der Plünderung.

Wofür steht diese Episode? Lässt sich von einem Sieg der Vernunft sprechen, von später Gerechtigkeit und symbolischer Wiedergutmachung, oder davon, dass der Neofrankismus bestrebt ist, sich das Deutungsmonopol über die Geschichte anzueignen? Oder ist es als gutes Zeichen zu werten, dass sie nicht außer Streit steht? Und wie vertraut klingt uns (inhaltlich, nicht stilistisch) eine Polemik des Soziologen José Ignacio Wert, vom 21. Jänner, die den Titel ¿La historia interminable? trägt, "Die endlose Geschichte?", und so beginnt: "30 Jahre ist es her, dass Franco gestorben ist. In einigen Monaten werden 70 seit dem Beginn des Bürgerkriegs vergangen sein. Und ohne den eifrigen Eifer von Verlagen und die beflissene Beflissenheit offiziöser Offizialitäten wären beide Ephemeriden am gemeinen Bürger unbeachtet vorbeigegangen, was die denkbar beste Nachricht über die politische Gesundheit der Spanier ist." Wert reagiert in seinem Artikel auf den Vorschlag des Schriftstellers Javier Cercas, "wie man ein für alle Mal mit dem Frankismus aufräumen sollte". Cercas hatte, Ende November vergangenen Jahres, gemeint, man könnte doch für die Schulbücher, die sich um ein Urteil über die jüngere Geschichte Spaniens drückten, einen Text folgender Art heranziehen: "Es gab einmal in Spanien eine Republik, demokratisch, wenn auch verbesserungswürdig wie alle

Demokratien, gegen die ein Militär namens Franco einen Staatsstreich unternahm. Weil einige Bürger den Putsch nicht hinnahmen und beschlossen, den Rechtsstaat zu verteidigen, gab es einen Krieg, der drei Jahre dauerte. Ihn gewann Franco, der dem Land ein Regime ohne Freiheiten aufzwang, ungerecht und illegitim, das eine Verlängerung des Krieges mit anderen Mitteln darstellte und 40 Jahre dauerte."

Wert missfällt nicht so sehr Cercas' "Dämonisierung" (wie er es nennt) der Francodiktatur, sondern dessen wohlwollende Beurteilung der Zweiten Republik, die für ihn "ein Scheitern der Demokratie" darstellt, zu dem gleichermaßen Revolutionäre und Konterrevolutionäre beigetragen hätten. Eine sol- che Einschätzung ist in den letzten Jahren in der spanischen Publizistik mehrheitsfähig geworden. Die erfolgreichsten Bücher über die nationale Zeitgeschichte - Pío Moa, César Vidal - exkulpieren die Erhebung der Generale, indem sie die sozialen und territorialen Reformen der spanischen Republik als Provokationen deuten, die den Putsch gleichsam erzwungen hätten.

Warum inspiriert mich die Debatte, sie mit eigenem Bemühen, mit hiesigen Verhältnissen, mit Aufgabe und Sinn von Geschichtsschreibung und Geschichtserzählung in Verbindung zu bringen? Wert misst die Politik der republikanischen Linken an Maßstäben außerhalb ihrer Möglichkeiten. Er registriert die Fehler, die Versäumnisse - und will nicht einsehen, dass eine politische Bewegung, die der sozialen Gerechtigkeit und dem freien Willen verpflichtet ist, am geringsten von ihrer Niederlage her beurteilt werden darf.

Am 27. Jänner lese ich einen Aufsatz des Philosophen Reyes Mate: "Das Ende der Überlebenden". Er zitiert seinen Landsmann Jorge Semprún, den Widerstandskämpfer, Buchenwald-Häftling, geläuterten Kommunisten, Schriftsteller, der auf die Frage, was ihm für die Zukunft Angst mache, geantwortet hat: "Die Erinnerung. Es verschwinden die Zeugen der Vernichtung." Reyes Mate operiert mit diesem Begriff, memoria, Erinnerung, und stellt ihm die Geschichte gegenüber, eigentlich die Beschäftigung mit Geschichte, im wissenschaftlichen Sinn, die dem französischen Gelehrten Maurice Halbwachs zufolge (der in Buchenwald starb) die Erinnerung ablöst: "Wenn die Erinnerung endet, beginnt die Geschichte."

Reyes Mate weist darauf hin, dass wir hinsichtlich der großen gemeinschaftlichen Unternehmungen unserer Epoche - der sozialen Revolution, des Widerstands gegen Faschismus und Nationalsozialismus und, füge ich hinzu, des Kampfes um die Befreiung Österreichs - an den Punkt gelangt sind, den Halbwachs genannt hat. Es ist ein traumatischer Wandel, meint Reyes Mate, denn mit dem Ende der Zeugen verliert sich etwas für immer. "Wir können die Tatsachen rekonstruieren, indem wir uns der Archive bedienen, aber wenn wir uns der Bedeutung, dem Sinn dieser Tatsachen nähern wollen, brauchen wir die Zeugen, müssen wir wissen, wie sie diese Ereignisse erfahren haben. Wir sind von ihnen abhängig, genauer, von ihrer künstlerischen oder literarischen Fähigkeit, sich mitzuteilen. Das ist es, was mit dem Tod des letzten Überlebenden verloren gehen kann. Hingegen gewinnt man Genauigkeit in der Rekonstruktion des Vergangenen." - Reyes Mate belässt es nicht bei dieser Einschätzung. Er fragt sich, ob die Geschichte wirklich die Erinnerung, oder Erfahrung, tilgt. Ob diese nicht doch das physische Verschwinden der Zeugen überdauert. Er verweist auf die jüdische Tradition, die gegenwärtig gehaltene Flucht aus der ägyptischen Sklaverei, auf Maimonides, der die Geschichtsbücher verachtete, weil es darum gehe, die Aktualität der Ereignisse zu erfassen, und dafür sei nichts so geeignet wie das kollektive Gedächtnis, das von den Eltern auf die Kinder übergehe. Reyes Mate bringt ein anderes, naheliegendes, Beispiel, die schon erwähnte Vereinigung zur Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses, die eben nicht im Schoß der Geschichtsforschung geboren sei, sondern "Frucht einer Erinnerung ist, die heimlich unter den Nachkommen der Opfer bewahrt und gepflegt wurde und erblüht ist, sobald es die äußeren Umstände erlaubten. Es stimmt, dass wir in ihr eine ganze Generation junger Historiker finden, aber das beweist nicht mehr, als dass Erinnerung und Geschichte zwei unterschiedliche, jedoch nicht unvereinbare Arten sein können, eine Beziehung zur Vergangenheit einzugehen."

Im Grunde sinniere ich, den spanischen Philosophen zitierend, schon geraume Zeit über das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Ich habe es oft gerühmt, weil ich in ihm gerade das verwirklicht sah, was Reyes Mate als Bündnis von Geschichte und Gedächtnis ersehnt. Dort haben junge Historiker vor einem Vierteljahrhundert in Interviews, die auch viel von den Fragenden preisgaben, die Erfahrungen österreichischer Widerstandskämpfer, Frauen wie Männer, bewahrt. In Spanien ist das in diesem Umfang unterblieben, aus Angst, Berechnung oder Frivolität, und anders als Reyes Mate fürchte ich, dass, was in Österreich zusammengeführt wurde, hier verloren gegangen ist: Inzwischen sterben schon die Kinder der Antifrankisten, und den vielen versprengten, voneinander isolierten Personen oder Gruppen fällt es schwer, mit bescheidenen Mitteln etwas von diesen Biografien zu halten. Da helfen auch nicht die Zeitungen, die fast jeden Tag über Bürgerkrieg und Francodiktatur berichten und doch mit jedem neuen Artikel bei null beginnen. Es gibt nichts, was sich mit dem österreichischen Archiv vergleichen ließe. Schon dessen Gründer, Herbert Steiner, hat die Allianz von Zeugenschaft und Geschichtsforschung verkörpert. Von Anfang an und bis heute haben Nazigegner, unter ihnen Spanienkämpfer wie mein Freund Ferdinand Hackl, ehrenamtlich im Archiv gearbeitet, in der Gewissheit, dass dies ihr erworbener Ort sei. Das herausragende Beispiel ist Hans Landauer, der Reyes Mates Vorstellung übertrifft: Der Zeuge, der ständig seine Erfahrung überprüft, ist zugleich der Forscher, der Faktizität nicht mit Realität verwechselt. Im Miteinander von Aneignung und Erleben, mit detektivischem Spürsinn und Misstrauen gegenüber ideologisch oder persönlich begründeten Verzerrungen hat er dem Dokumentationsarchiv die ergiebigste Spezialsammlung von Lebensspuren internationaler Freiwilliger auf Seiten der spanischen Republik eingerichtet.

Allerdings verhärtet sich in mir der Verdacht, dass so einer nicht mehr in die Generallinie der Zeitgeschichtsforschung passt. Viele der jungen Historiker von damals kümmern sich heute kaum noch um den Widerstand; er ist ihnen wohl, weil die politische Entwicklung dieses Landes in die falsche Richtung ging, lästig geworden. Vielleicht betrachten sie ihn als unerheblich, verglichen mit der Menge an Verbrechern und Mitläufern, vielleicht machen sie ihn für die gegenwärtige Misere verantwortlich, als wäre er an ihrer Perspektivlosigkeit schuld, als führte eine Rutsche vom Damals ins Heute. Oder meinen sie gar, dass schon alles erforscht worden sei, und sehen nicht die Verästelungen, die weißen Flecken, die offenen Fragen, die Aktualität eines Kampfes, der im Wesentlichen ohne das Opium der Völker auskam und in dem eine Klasse und eine Partei überrepräsentiert waren, die man immer nur ungern bezeichnet hat.

Möglich also, dass die memoria histórica in Österreich ebenso gefährdet ist wie in Spanien, nur anders. Dass sie von denen, die ihr verpflichtet sind, mit Routine betrieben wird, nicht mehr mit Leidenschaft, und dass die andern, mit ihren herrischen Plänen von einem "Haus der Geschichte", nicht einmal Fertigkeiten erkennen lassen, nur Geltungsdrang und das Bedürfnis, den Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten zu verschleiern. Das würde einiges erklären, zum Beispiel den Vorwurf an die Freiheitskämpfer, ihr Leben für ein Volk gegeben zu haben, das diese Hingabe nicht verdiente (das österreichische nämlich), oder die Tatsache, dass in der neuen ständigen, in Umfang und Gestaltung unzureichenden Ausstellung über den österreichischen Widerstand der Spanische Bürgerkrieg und die 1390 österreichischen Internationalen bloß als Schemen vorkommen. Oder dass die Forschung Aufruhr und Widerstand zurückgestellt hat, zugunsten der Beschäftigung mit denen, die sie als die reinen Opfer und die klaren Täter ansieht. Geschichte lebt von der utopischen Kraft, die ihr innewohnt, davon, dass sie hätte Gegenwart werden können, was in ihr als Hoffnung und Versprechen angelegt war. Die bitterste Niederlage existiert nicht ohne den Willen zur Veränderung, der ihr vorausgeht. Wer ihn nicht teilen oder verstehen mag, macht die Besiegten erst zu Verlierern. Das wäre das Ende, auch des Widerstands in Spanien, der unwiderrufliche, ewige 1. April. [*]